14. November-2024, Berlin
Ich bin 49 Jahre alt, was bedeutet, dass ich schon 49-mal die Umstellung auf die Winterzeit mitgemacht habe. Trotzdem schaue ich seit 49 Jahren im November nahezu täglich gegen vier aus dem Fenster und denke: „Krass, wie früh es doch dunkel wird.“
Eigentlich ganz schön so ein Leben mit dem Erinnerungsvermögen einer Amöbe.
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Hole im DHL-Kiosk ein Paket für meine Frau ab. Halte meinen Ausweis und die Vollmacht bereit, die so alt, verblichen und abgeranzt ist, als hätte ich sie gerade auf der Straße gefunden und würde nun versuchen, mir unrechtmäßig ein Päckchen zu erschleichen.
Der junge DHL-Kioskmann kontrolliert beide Dokumente penibel und stutzt. „Du heißt Christian und deine Frau Christina?“, fragt er mich. „Wie lange hast du danach gesucht?“
Ich erkläre, wir seien schon seit 27 Jahren zusammen, was seine Frage nicht beantwortet, aber trotzdem ein Lächeln auf sein Gesicht zaubert. „Das ist süß“, sagt er, als er mir das Paket überreicht. So beseelt wie er schaut, scheint das für ihn der schönste Moment des Tages gewesen zu sein.
15. November 2024, Berlin
Nach Karneval und Lesebühne weiteres Kulturprogramm: Dominique Horwitz singt Brel. In der Bar jeder Vernunft. Wir lösen damit unseren gemeinsamen Weihnachtsgutschein vom letzten Jahr ein, den meine Frau für uns zusammen besorgt hatte. Womit sie formaljuristisch gesehen nicht gegen unseren „Wir schenken uns nichts“-Grundsatz verstoßen, ihn aber bis zum äußersten ausgereizt hat.
In einem prunkvollen Spiegelsaal neben gut situierten Menschen zu sitzen, die edle Weine trinken und gebeizten Kabeljau oder Simmentaler Tafelspitz essen, während französische Chansons dargeboten werden, fühlt sich unangenehm bildungsbürgerlich und elitär an. Andererseits bin ich Ende 40, habe das große Latinum und wir zählen mit unserem Einkommen zu den Besserverdienenden. Da ich nicht an kompletter Realitätsverweigerung leide, muss ich mir eingestehen, dass wir hier besser reinpassen in einen Underground-Techno-Club in Friedrichshain.
In der Pause liest eine ältere Dame an unserem Tisch etwas in ihrem Handy. „Ach, Jacques Brel war gar nicht Franzose, sondern Belgier“, sagt sie schließlich. In einem mich selbst überraschenden Anfall, mich im Small Talk zu versuchen, erwidere ich: „Ja, ich glaube Wallone.“
Was für eine unnütze Information, die kommunikativ nicht wirklich anschlussfähig ist. Denn ich habe keinerlei tiefergehendes Wissen über Belgien, so dass ich mich mit der Frau nicht über die Geschichte, Geographie oder Demographie des Landes unterhalten könnte. Ich weiß lediglich, dass es Wallonien und Flandern gibt und dass in der einen Region Französisch und in der anderen niederländisch gesprochen wird. Ich befürchte, das reicht nicht für eine abendfüllende Unterhaltung.
Obendrein muss ich später nach einer kurzen Google-Recherche auch noch feststellen, dass meine Aussage falsch war: Der Vater von Jacques Brel war französischsprachiger Flame.
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Als wir nach Hause kommen, hat der Sohn Besuch von drei Freunden. Sie machen eine gemeinsame – nennen wir sie – auf Rauchwaren basierende Pflanzen-Entspannungstherapie. Das erklärt auch, warum in der Küche sechs Tiefkühlpizzen, vier Ofen-Baguettes und eine 8er-Packung Mini-Pizzen auf den Verzehr warten.
16. November 2024, Berlin
Geburtstagsessen der Schwiegermutter und ihres Lebensgefährten im Fischer & Lustig. Leider kein Stand-up-Club für Witze erzählende Hochsee-Angler, sondern ein ganz normales Restaurant. Aber das Essen ist lecker.
17. November 2024, Berlin
Heute ist Tag des hausgemachten Brotes. Ich gehe davon aus, dass er in der Corona-Pandemie erfunden wurde. Genau wie der Wir-klatschen-auf-dem-Balkon-Tag, der Tag des Spazierengehens und der Welt-Jogginghosen-Tag.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)