Cassis 2022 – Tag 04 (12.07.): In der Ferne zirpen die Zikaden. Und in der Nähe. Und einfach überall.

Der alljährliche Urlaubsblog. Nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Falls Sie, aus welchen Gründen auch immer, alle Beiträge des Cassis-Blogs lesen möchten, werden Sie hier fündig.


Ratsch! Ratsch! Ratsch!

Kurz vor sieben. Die Zikaden sind aufgewacht. Und ich damit auch.

Im Vergleich zu Städten werden ländliche Gegenden gemeinhin als Oasen der Ruhe und der Stille gerühmt. In erster Linie von Menschen, die noch nie in ländlichen Gegenden waren.

Ratsch! Ratsch! Ratsch!

In und um Cassis ist es mit der ländlichen Ruhe und Stille nicht weit her. Dafür sorgen die Zikaden. Ihr Zirpen ist ein beständiger Klangteppich, ein allgegenwärtiger Hintergrund-Soundtrack. Morgens, wenn die Sonne aufgeht, fangen sie mit der Zirperei an, und erst abends, wenn die Sonne verschwindet, hören sie auf.

Ratsch! Ratsch! Ratsch!

Das Wort „Zirpen“ vermittelt nur unzureichend, was für Geräusche die Zikaden den ganzen Tag produzieren. Es ist eine Mischung aus Kreischen, Brüllen und Zetern, während jemand eifrig ein Stück Metall über eine Küchenreibe zieht. Selten in piano, sondern fast ausschließlich fortissimo.

Ratsch! Ratsch! Ratsch!

Aus mir unerklärlichen Gründen heißt die Zikadenart, die hier in der Gegend lebt, Singzikaden. Eine veritable Wort-Ton-Schere. Wer auch immer die Bezeichnung Singzikaden eingeführt hat, hat vermutlich noch nie gehört, wie jemand singt. Die Geräusche, die Zikaden fabrizieren, haben mit Gesang so viel zu tun wie ein Klo bei einer Brechdurchfall-Erkrankung mit expressionistischer Malerei. (Vergleiche wie dieser sind der Grund, warum Sie für die Beiträge hier nichts bezahlen müssen.)

Dauerbrüllende Schreizikade wäre ein viel zutreffenderer Name. Aber mich fragt ja niemand.

Ratsch! Ratsch! Ratsch!

Für den Zikaden-Lärm sind – wie sollte es anders sein – die Männchen zuständig. In der Antike schrieb der griechische Dichter Xenarchos: „Glücklich leben die Zikaden, denn sie haben stumme Weiber.“ Wäre Xenarchos eine Frau gewesen, wäre ihr Urteil sicherlich anders ausgefallen: „Unglücklich leben die Zikadinnen, denn ihre Männer halten einfach nie ihre verdammten Fressen.“

Ratsch! Ratsch! Ratsch!

Die Zikaden-Männchen plustern sich auf, schreien rum und tuen wichtig. Sie sind quasi die Donald Trumps der Insektenwelt. Mit der Zirperei stecken sie – auch das ist keine Überraschung – ihr Revier gegenüber anderen Männchen ab. („Das ist mein Zirp-Bereich, du Lauch!“) Oder – surprise, surprise –signalisieren den weiblichen Artgenossinnen lärmend, dass sie paarungsbereit sind. Das klingt aber nicht nach lieblichem Minnesang, sondern mehr nach Ballermann-Hit aus der untersten Layla-Schublade.

Ratsch! Ratsch! Ratsch!

Zikaden machen nicht nur nervigen Krach, sondern sehen auch nicht besonders schön aus. Wie überdimensionierte Schmeißfliegen. Mit glubschigen Augen, dicken, abgeknickten Beinen und großen widerlichen Flügeln. Aber ich möchte mich nicht des Body Shamings schuldig machen. Möglicherweise gibt es in der Insektenwelt andere Schönheitsideale. Ist ja nicht auszuschließen, dass Zikaden seit Jahrzehnten den Wettbewerb „Sexiest insect alive” unter sich ausmachen. (Das sie bei „Die Insekten suchen den Superstar“ gewinnen, bezweifle ich trotzdem.)

Ratsch! Ratsch! Ratsch!

Ich hoffe, dass ich mich möglichst bald an den Zikadenlärm gewöhne. Wie Menschen, die so lange an der Autobahn gewohnt haben, dass sie nur noch einschlafen können, wenn der Verkehr an ihrem Schlafzimmer vorbei rauscht.

Ratsch! Ratsch! Ratsch!

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Das frühe Aufwachen hat auch heute den Vorteil, dass ich rechtzeitig laufen gehen kann, bevor es zu heiß wird. Also, nachdem ich Kaffee getrunken, auf dem Balkon in die Ferne geschaut und das Internet gelesen habe. Ist ja immer noch Urlaub hier.

Ich fürchte mich ein wenig, als ich loslaufe. Im Gegensatz zu gestern weiß ich heute, was mich erwartet. Viel Sonne, wenig Schatten, Staub, Schweiß und ein elend steiler Anstieg. Anscheinend kann ich mich aber nicht mehr richtig daran erinnern. In einer Mischung aus Verdrängung und Selbsthass beschließe ich, 500 Meter mehr zu laufen, das heißt zehneinhalb Kilometer.

Heute scheint es mir noch heißer zu sein. Liegt womöglich daran, dass ich eine halbe Stunde später losgekommen bin. Bis zum Bahnhof läuft es trotzdem ganz gut. Zumindest ganz okay. Im Rahmen meiner Möglichkeiten. Ist ja auch flach.

Nicht hinterm Horizont – schönen Gruß an Udo Lindenberg –, aber hinterm Bahnhof geht es dann wieder in den stetig steiler werdenden Berg. Meine Schritte werden kürzer, die Beine stampfiger, der Atem keuchiger. Wie eine Dampflokomotive, die sich den Berg hochschiebt. Nur nicht so kraftvoll.

Damit die Qual erträglicher wird, blicke ich nicht mehr in die Ferne, wo der Anstieg nicht enden will. Stattdessen schaue ich auf den Boden und konzentriere mich auf jeden einzelnen Schritt. So wie Beppo, der Straßenkehrer, bei Momo. Der hat immer nur an den nächsten Besenstrich gedacht und nicht an die lange Straße, die er fegen musste. (Schritt – Atemzug – Besenstrich. Schritt – Atemzug – Besenstrich.) Stellt sich aber heraus, dass einen Berg hochjoggen etwas anderes als Straße kehren ist. Das bleibt scheiße anstrengend, egal wo du hinschaust oder an was du denkst. (Schritt – Keuchen – Stolpern – Fluchen – Stöhnen – Schritt – Keuchen – Taumeln – Schritt – Hinfallen – unkontrolliert Weinen.)

Am Ende des Gewerbegebiets hört der Bürgersteig auf. Ich möchte ungern auf der Straße laufen. Vielleicht wird ein Autofahrer von der Sonne geblendet, so dass er mich übersieht und umnietet. Obwohl, mit etwas Glück lande ich auf der Motorhaube und kann ein Stück mitfahren. Das würde mir einen Teil der Bergstrecke ersparen.

Trotzdem laufe ich lieber in einem kleinen Waldstreifen neben der Straße. Der Boden ist recht uneben, mal steinig, mal weich. Ab und an lauern Wurzeln als Stolperfallen. Quasi wie beim Crosslauf. Das ist gut. Crosslaufen stärkt die Gelenke, Bänder und Sehnen. Außer du knickst um und reißt dir die Bänder und Sehnen. Das ist dann nicht so gut.

Besonders idyllisch ist der Waldstreifen nicht. Zu viel Müll. Dosen, Glasflaschen, Plastikflaschen, leere Kanister, Pappe, Tüten, Kartons, verrostete Konserven. Ist fast wie auf einer Müllhalde laufen. Ich möchte allerdings auch nicht ausschließen, dass ich irgendwo ein Schild übersehen habe und tatsächlich auf einer Müllhalde laufe.

Nach rund 67 Minuten und zehneinhalb Kilometern bin ich zurück an unserer Ferienwohnung. Beppo, der Straßenkehrer, steht vor der Tür und nickt mir zu.

Foto mit Heiligenfigur hinter Gittern und ohne jeglichen Bezug zum Text.

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Fortsetzung


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