Meine Frau und ich gehen runter in den Ort zu unserer Stammbäckerei. Wir waren erst zweimal dort, aber werden in diesem Urlaub sicherlich zu keinem anderen Bäcker mehr gehen. In unserer Stammbäckerei – ja, ich bleibe bei der Formulierung – kennen wir die Regeln der sozialen Interaktion, die Gepflogenheiten, die Abläufe. Okay, bei anderen Bäckern ist das wahrscheinlich identisch: Du gehst rein, stellst dich an, wenn du an der Reihe bist, sagst du, was du haben möchtest, bezahlst und verlässt den Laden.
Trotzdem gibt es Sicherheit – insbesondere im Urlaub in einem Land, in dem du die Sprache nicht beherrschst –, wenn es Routinen gibt, du eine gewohnte Umgebung hast und vertraute Gesichter siehst. Gut, die ältere Verkäuferin schaut immer etwas grimmig. Trotzdem ist sie ein vertrautes Gesicht. Bei ihr weiß ich, dass sie mir nichts tut. Keine Ahnung, wie das in anderen Bäckereien ist. Wenn du da nicht schnell genug bestellst und bezahlst, wirst du vielleicht vom Verkaufspersonal attackiert . Oder in der „Boulangerie Lion“ sogar von dem backenden Löwen.
Heute früh müssen wir allerdings feststellen, dass in unserer Stammbäckerei die Croissants, die wir so liebgewonnen haben, aus sind. Ich verstehe nicht, was die jüngere Verkäuferin zu der Kundin sagt, die an der Reihe ist. Situativ erschließe ich mir aber, dass es wohl gleich Nachschub gibt. Meine Frau und ich verlassen die Bäckerei, um in ein paar Minuten noch einmal unser Croissant-Glück zu versuchen.
Wir schlendern zum Hafen. Dort reihen sich Lokale, Restaurants und Cafés aneinander. Mit Blick aufs Wasser und auf Ausflugs-, Segel- und kleinere Fischerboote kannst du hier zu recht strammen Preisen zu Mittag und zu noch strammeren Preisen zu Abend essen.
Apropos stramm: Obwohl es erst kurz nach 11 ist, führen sich nicht wenige Urlaubende schon ein Fläschchen Weißwein zu Gemüte. In der prallen Sonne bei 30 Grad. Einerseits sieht das durchaus reizvoll aus. Der Wein ist eisgekühlt und das Kondenswasser läuft die Gläser hinunter. Am liebsten würde ich die ablecken. Andererseits reicht bei dieser Hitze – und meinem leeren Magen – ein Schluck Alkohol und ich hätte einen im T. Aber das ist wahrscheinlich gar nicht so schlecht, wenn du nach dem Essen die Rechnung bekommst.
Ich bin ohnehin kein riesengroßer Fan der französischen Küche. (Zu viele Innereien und zu viele Tiere, die ich nicht essen möchte.) Das wirft natürlich berechtigterweise die Frage auf, warum ich überhaupt in Frankreich Urlaub mache, aber das ist ein anderes Thema. (Vor allem, weil jedes Jahr nach Italien fahren langweilig ist und Indien zu weit weg ist.) Auf jeden Fall bin ich nicht in Versuchung gebracht, unsere Urlaubskasse mit 20 Euro für eine Portion Moules Frites zu belasten. Und mit sieben Euro oder mehr für ein Glas Weißwein.
Da reizt mich eher das Frühstück in einem der kleinen Hafenbistros. Das wird auf einer dreistöckigen Etagere mit Käse- und Wurstaufschnitt, Marmelade, Nuss-Nougat-Creme, Crossaints und Baguettes sowie Obstsalat (französische Variante) oder gebratenem Schinken und Rührei (amerikanische Version) serviert. Dazu gibt es Orangensaft und ein Kaffeegetränk.
Dreizehn Euro kostet das Ganze. Für ein Frühstück nicht gerade geschenkt. Aber der sich nie irrende Volksmund weiß ja, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages ist und du morgens wie ein Kaiser speisen sollst. Für ein kaiserliches Mahl sind dreizehn Euro ziemlich wenig.
Die Urlaubskasse ist von dieser Logik nicht uneingeschränkt überzeugt. Nicht zu Unrecht. Der Rest der Familie möchte mir sicherlich nicht beim Frühstücken zuschauen, sondern selbst etwas essen. Dann liegst du schon bei über 50 Euro.
Meine Frau und ich gehen zurück zu unserem Stammbäcker. Wir holen zwei Baguettes und drei Croissants. Dafür müssen wir nur 5,30 Euro zahlen. 1,10 Euro für ein Croissant ist auch nicht übermäßig günstig. Aber wenn der Kaiser zum Frühstück Croissants essen will, bekommt er Croissants. Koste es, was es wolle.
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Ich war in meinem Leben an mehr als 30 Stränden, verteilt auf zehn Länder und drei Kontinente. Anthropologisch und soziologisch gesehen, ist es nicht wahnsinnig originell, wenn ich schreibe, dass sich je nach Land und Kulturkreis die Sitten, Gebräuche, Verhaltensweisen und Umgangsformen an Stränden stark voneinander unterscheiden.
Das trifft aber nicht auf Familien zu. Länder-, kultur und religionsübergreifend verhalten sich Eltern und Kinder an allen Stränden vollkommen identisch. Immer. Ohne Ausnahme. Da gibt es keinerlei Varianz und Abweichungen. Das gilt auch für unseren Stamm-Strand in Cassis. Hier ein paar Beispiele:
- Eltern gehen überall ausschließlich sehr, sehr langsam und sehr, sehr bedächtig ins Wasser. Schritt für Schritt und zusammenzuckend sobald eine winzige Welle an ihnen hochschwappt. Dabei benetzen sie sich vorsichtig die Unter- und dann die Oberarme. Damit wollen sie vermeiden, durch zu schnellen Kontakt zum kalten Wasser einen Herzstillstand zu erleiden. Kinder müssen dagegen immer und ausnahmslos ins Meer rennen und maximal planschen und Wasser verspritzen. Das ist durch einen genetischen Code festgelegt. An allen Stränden rund um den Globus ermahnen Eltern ihre Kinder dann in scharfem Ton, sie sollen unverzüglich die Spritzerei unterlassen. Sie drohen mit Enterbung oder gar Eisverbot, was für die Kinder wesentlich schlimmer ist.
(Bei generationsübergreifenden Konflikten in der Familie rund um den angemessenen Einstieg ins Meer stößt das Konzept „Erziehen ohne Strafen” an seine Grenzen.) - Kinder wollen nie das Wasser verlassen. Nirgendwo, an keinem Strand weltweit. Ihre Lippen sind blau, die Finger- und Zehennägel weiß und ihr Zähneklappern hat mehr beats per minute als ein Scooter-Song. Trotzdem sind sie unter keinen Umständen bereit, aus dem Wasser zu gehen und sich kurz auf dem Badetuch aufzuwärmen. Eltern auf der ganzen Welt stehen dann vor ihren Kindern fordern auf, bitten, flehen, bestechen mit Süßigkeiten, schimpfen und zetern. Irgendwann wird es ihnen zu bunt, sie klemmen sich ihr schreiendes Kind unter den Arm und schleppen es zum Liegeplatz.
(Eine Verhalten, das im ersten Moment grob und gewaltvoll wirkt, aber trotzdem mit bedürfnisorientierter Erziehung vereinbar ist: Das Bedürfnis der Eltern, ihr Kind soll nicht im Wasser erfrieren, hat in der Situation Vorrang gegenüber dem Bedürfnis des Kindes, nie wieder das Meer verlassen zu wollen.) (Für mehr unfundierte Erziehungsratschläge kaufen sie bitte meine Bücher.) - Alle Kinder auf allen Kontinenten hassen es, eingecremt zu werden. Sobald Eltern auch nur andeuten, eine Flasche Sonnencreme aus der Badetasche zu holen, beginnt unverzüglich das kindliche Gemaule und Protestieren. Wagen es Eltern tatsächlich, mit dem Eincremen zu beginnen, verwandeln sich Kinder in tollwütige Kraken, die mit allen zur Verfügung stehenden Extremitäten versuchen, sich nicht festhalten zu lassen und den Kontakt zur Sonnencreme zu vermeiden. Dabei gilt die Regel: Je kleiner das Kind, desto tollwütiger und krakiger.
(Ich habe Babys gesehen, die ihre hünenhaften Väter zur Strecke gebracht haben, als diese versuchten, eine stecknadelkopfgroße Menge Sonnencreme zu applizieren.) - Kinder sind an keinem Strand der Welt in der Lage, Lebensmittel festzuhalten. Wird ihnen etwas Ess- oder Trinkbares gereicht, liegt es sofort auf dem Boden. Ein Eis, zack, unten. Ein Obstschnitzen, flutsch, unten. Ein Trinkbäckchen, platsch, unten. Ein Sandwich, plumms, unten. Nirgendwo reagieren Kinder dann mit Verständnis, wenn ihre Eltern ihnen untersagen, den angelutschten Keks, der über den halben Strand gekullert ist, noch zu essen.
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Der Kniffel-Abend bringt eine Veränderung auf dem Leader-Board. Mit einem Kniffel und 301 Punkten gewinne ich das dritte Mal hintereinander und übernehme die Gesamtführung. Außer mir scheint das niemanden so richtig zu freuen, ja, nicht einmal zu interessieren. Gewiss möchte ich hier nicht den verkrusteten patriarchalen Familienstrukturen der 50er/60er das Wort reden, aber ein wenig mehr Respekt gegenüber dem Herrn Vater wäre schon schön.
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Alle Beiträge des Cassis-Urlaubsblogs finden Sie hier.
- Vorbereitung 1 (06.07.): Was Sie noch nie über Cassis wissen wollten und deshalb nicht zu fragen wagten
- Vorbereitung 2 (07.07.): Auch Nicht-Nicht-Stammfriseurinnen können gut Haare schneiden
- Anreise (08.07.): Nur Amateure erreichen ihre Anschlusszüge sofort
- Tag 01 (09.07.): Sightseeing in Marseilles. Oder: So weit die Füße tragen.
- Tag 02 (10.07.): Der mit der Kaffeemaschine tanzt. Oder sie mit ihm.
- Tag 03 (11.07.): Wer hoch läuft, muss noch höher laufen. Und dann noch höher.
- Tag 04 (12.07.): In der Ferne zirpen die Zikaden. Und in der Nähe. Und einfach überall.
- Tag 05 (13.07.): Ein Tag ohne Routinen. Fast wie im Urlaub.
- Tag 06 (14.07.): Liberté, égalité, fraternité! Oder: Ein Feuerwerk wie ein Drogenrausch
- Tag 07 (15.07.): Tage, an denen du vom Schwitzen schwitzt
- Tag 08 (16.07.): Morning has broken
- Tag 09 (17.07.): Ein Königreich für ein Wasser, Wasser, Wasser
- Tag 10 (18.07.): Je ne parle pas français. Really not.
- Tag 11 (19.07.): Was macht die Taube am Strand?
- Tag 12 (20.07.): Türlich, türlich!
- Tag 13 (21.07.): The boat that rocked
- Tag 14 (22.07.): Ein letztes Mal
- Heimreise (23.07.): Au revoir!
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)