Cassis 2022 – Tag 06 (14.07.): Liberté, égalité, fraternité! Oder: Ein Feuerwerk wie ein Drogenrausch

Der alljährliche Urlaubsblog. Nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Falls Sie, aus welchen Gründen auch immer, alle Beiträge des Cassis-Blogs lesen möchten, werden Sie hier fündig.


Ist das ein Kampfhund auf dem Foto? Oder eine Mischung aus Rottweiler und Labrador?

Das frage ich mich, als ich auf meinem morgendlichen Lauf an einem Waldweg ankomme, der von einer Schranke versperrt wird. An der Schranke hängt ein Zettel. Mit dem sucht jemand nach seinem entlaufenen Hund. Von dem ich nicht weiß, ob es ein Kampfhund oder ein Kampf-Kuschel-Mischling ist.

Ich zögere, ob ich den Waldweg weiterlaufen soll. Zum einen wegen der Schranke. Die wird ja irgendeine beschränkende Bedeutung haben. Wahrscheinlich, damit keine Autos da langfahren. Oder es ist militärisches Sperrgebiet und wenn ich den Wald durchquere, nehmen mich ein paar treffsichere Scharfschützen ins Visier.

Zum anderen wegen des entlaufenen Hundes, von dem ich nicht weiß, ob es Attila ist oder ein Schmusebärchen mit Anger-Management-Problemen. Ich bin gerade den steilen Berg hinter dem Bahnhof hochgerannt. Deswegen habe ich große Zweifel, ob ich noch in der körperlichen und geistigen Verfassung bin, um bei einem Wettrennen mit einem ziemlich großen und vermutlich ziemlich schnellen Hund als Sieger hervorzugehen. Vor allem, wenn dieser seit Tagen auf Frolicentzug ist und meine Waden für ein schmackhaftes Mahl hält.

Was für das Weiterlaufen spricht? Ich habe mir für heute elf Kilometer vorgenommen. Auf die käme ich nicht so einfach, wenn ich jetzt nicht weiterlaufe. Umdrehen ist also keine Option. Ich schnaufe noch einmal tief durch, schlage den Waldweg ein und frage mich, ob das noch Leichtsinn oder schon Selbstüberschätzung, die an toxische Männlichkeit grenzt. Egal, wird schon nichts passieren. (Wäre eigentlich eine hübsche Grabinschrift, falls ich mit meiner Einschätzung falsch liegen sollte.)

Nach ungefähr 200 Metern laufe ich an einem Steinhaufen vorbei, der am Wegesrand aufgehäuft ist Was es damit wohl auf sich hat? Vielleicht verbuddeln die Scharfschützen hier die Trottel, die denken sie könnten hier einfach durchlaufen und dann abgeknallt werden. Oder hier liegt der Hund begraben. (Sätze wie diese verhindern, dass ich auf meinem Blog eine Bezahlschranke einführen kann.) Jetzt treibt er womöglich im Wald sein Unwesen als Zombiehund, verlässt sein Grab jeden Donnerstag um Punkt 9.48 Uhr und jagt erschöpfte Jogger.

Zombiehunde-Grab. Vielleicht.

Der Waldweg ist nicht so flach, wie ich mir erhofft habe. Er schlängelt sich stetig und lange ansteigend durch die Bäume. Wobei, so viele Bäume gibt es hier gar nicht. Ist das überhaupt ein Wald, wenn hier so wenige Bäume stehen? Gibt es einen Baum-pro-Quadratmeter-Quotienten, der definiert, ab welcher Menge an Bäumen die Bezeichnung Wald verwendet werden darf.

Fragen, auf die ich keine Antwort habe, und die mir beim Laufen nicht weiterhelfen. Wegen der wenigen Bäume knallt die Sonne ganz schön. Wegen der knallenden Sonne ist es ganz schön heiß. Wegen der Hitze schwitze ich ganz schön doll. Wegen meiner Schwitzerei habe ich ganz schön doll Durst.

Vielleicht wäre es doch nicht das Schlechteste, wenn mich der entlaufene Hund reißen würde. Dann könnte ich im Krankenwagen zurück in die Ferienwohnung fahren. Oder im Leichenwagen. Hauptsächlich nicht zu Fuß!

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Auf dem Weg zum Bäcker komme ich in Cassis an einem Platz vorbei, auf der gerade eine Zeremonie durchgeführt wird. Heute ist französischer Nationalfeiertag. Etwas zu lange überlege ich, was der Grund für den Feiertag ist. (Mein alter Geschichtslehrer verzieht das Gesicht.) Ist heute das Gründungsdatum der Fünften Republik? Gibt es überhaupt eine Fünfte Republik? Wo wir doch seit Netflix wissen, dass die besten Serien nach der vierten Staffel enden. (Mein alter Geschichtslehrer vergräbt das Gesicht in seinen Händen.)

Dann fällt mir doch ein, was heute gefeiert wird. Am 14. Juli fand der Sturm auf die Bastille statt. (Mein alter Geschichtslehrer nickt wohlwollend.) 1789 war das. (Dafür hätte ich gerne einen Extrapunkt.) Der Start der französischen Revolution. Oder war es der Abschluss? (Mein alter Geschichtslehrer lässt resigniert seine Gesichtszüge und Schultern hängen.)

Damals hat uns mein alter Geschichtslehrer erklärt, der Sturm auf die Bastille sei gar nicht so ein bedeutsames Ereignis gewesen. Dort hätten nur wenige Kleinkriminelle gesessen, bewacht von ein paar altersschwachen Soldaten. Das Ganze hätten die Revolutionäre dann propagandistisch ausgeschlachtet. Keine Ahnung, ob das stimmt.

Mein alter Geschichtslehrer war auf die Franzosen ohnehin nicht besonders gut zu sprechen. Die würden sich wie eine Weltmacht aufspielen, hätten aber nie alleine einen Krieg gegen Deutschland gewonnen. Immer nur mit Hilfe von anderen Staaten. Fand ich damals – und heute – eine komische Denke. Schön, dass Deutschland so mächtig und kriegstüchtig war, dass es seine Nachbarn alleine überfallen hat.

Genug von meinem alten Geschichtslehrer und zurück zur Zeremonie. Auf der eine Seite des Platzes haben sich ein paar Gendarmen aufgereiht. Alle in schicker Gardeuniform mit diesen hohen Kopfbedeckungen, die sich nicht entscheiden können, ob sie Hut oder Helm sein wollen.

An der nächste Platzseite steht eine weitere Gruppe in Reihe. Alle tragen schwarze Hosen, schwarze Poloshirts mit orangenem Streifen am Ärmel und einem Wappen auf der Brust sowie schwarze Basecaps mit einer orangenen Umrandung. Auch eine Art Uniform, aber in cool.

Die dritte Seite säumt eine Gruppe von Männern in Anzügen und Frauen in Kostümen. (Businesskostümen, keine Karnevalskostüme) Ein junger, schmächtiger Mann hat ein Ledergeschirr umgeschnallt, in das eine lächerlich lange Stange mit Fahne eingehängt ist, und er muss das alles halten, ohne die Balance zu verlieren und nach vorne umzukippen. Ich beneide ihn nicht um diese Aufgabe. Bei über 30 Grad in der prallen Sonne. Andererseits bin ich heute Morgen auch schon bei über 30 Grad in der prallen Sonne schon elf Kilometer gelaufen. Ein Whataboutism der dem bedauernswerten Mann in seiner schwierigen Lage auch nicht weiterhilft.

Am Kopfende des Platzes hält eine ältere Dame eine Rede. Vermutlich die Bürgermeisterin. Sie wirkt sehr vornehm und kultiviert. Ich hoffe, sie ist nicht von der Front National. (Beziehungsweise von der Rassemblement National, wie die Partei mittlerweile heißt.) Ist in Südfrankreich ja nicht auszuschließen.

Zum Abschluss schreitet die Bürgermeisterin die Reihen ab. Es wird salutiert, genickt und sich ans Herz gegriffen, was das Zeug hält. Dazu wird irgendeine Hymne vom Band gespielt. Leider nicht die Marseillaise. Die fand ich früher bei Winter Games an meinem Atari immer so schmissig und energiegeladen. Ganz im Gegensatz zum übertriebenen Pathos der deutschen Nationalhymne. Das fand ich ziemlich öde.

Dann ist die Veranstaltung vorbei. Ich gehe zur Bäckerei, die glücklicherweise trotz des Feiertags geöffnet ist. Also, glücklicherweise für mich, weil ich sonst keine Baguettes und Croissants kaufen könnte. Nicht ganz so glücklicherweise für die Angestellten, die vielleicht gerne der Zeremonie beigewohnt hätten.

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Fortsetzung


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