Der alljährliche Urlaubsblog. Nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Falls Sie, aus welchen Gründen auch immer, alle Beiträge des Cassis-Blogs lesen möchten, werden Sie hier fündig.
„Wollen Sie noch Frühstück dazu nehmen?“
Das hatte mich gestern Abend der Portier beim Einchecken gefragt. Wollte ich eigentlich nicht. Deswegen hatte ich das ursprünglich nicht mitgebucht. Weil ich dachte, das bekommen wir in einem Café bestimmt günstiger und das freut die Urlaubskasse.
„Kostet nur zehn Euro pro Person“, schob der Portier als Argument für das Frühstück hinterher. Also willigte ich ein. Schließlich wollte ich weder vor ihm noch vor dem Rest der Familie wie ein knauseriger Pfennigfuchser dastehen und das muss dann auch die Urlaubskasse verstehen.
Nun stehen wir im Essensraum und verschaffen uns einen Überblick. Die Tische stehen eng an eng. So können beim Frühstück möglichst viele Gäste gleichzeitig abgefrühstückt werden. (Wortspiele wie dieses sind der Grund, warum die Beiträge hier kostenlos sind.)
Das Buffet ist nicht übermäßig lang, aber reichlich bestückt. Mit Baguettes, Croissants, Brioches, Cornflakes, Müsli, Käse- und Wurstaufschnitt, verschiedenen Marmeladen, Honig, Karamell- und Schoko-Cremes, mehreren Joghurtsorten, Bechern mit geschnittenem Obst und diversen Kaffeespezialitäten aus dem Vollautomaten sowie A- und O-Saft. Auf einem Extratisch in der Ecke stehen etwas verschämt auch noch Rührei, gebratener Schinken und Würstchen.
Bei dieser Auswahl können wir uns die zehn Euro locker zurückholen. Zumindest in der Theorie. In der Praxis scheitert dieses Vorhaben bei mir kläglich. Direkt neben uns sitzen drei Männer und weil unsere Tische so dicht beieinanderstehen, muss ich ihnen beim Aufstehen entweder meinen Hintern oder meinen Penis ins Gesicht drücken. Da ich ihnen nicht das Frühstück und den restlichen Tag vermiesen möchte, hole ich mir lediglich einmal etwas am Buffet nach.
An einem anderen Tisch sitzt ein älteres Ehepaar, so um die 80+. Der Mann ist ein sehr aussichtsreicher Kandidat für die Auszeichnung Most stylish man who ever walked the earth. Er trägt ein weißes Leinenhemd mit Stehkragen, eine lange, grau-weiß-karierte Stoffhose mit Hosenträgern und dazu regenbogenfarbene Espadrilles. Für dieses modische Ensemble würde jeder 30-jährige Hipster in Neukölln töten. Der Senior trägt das wahrscheinlich seit über 60 Jahren so. Ich dagegen sehe mit meinen kurzen schwarzen Jogginghosen wie der miese Tourist aus, der ich bin.
Meine Frau schaut das ältere Ehepaar versonnen an und meint, das könnten wir in 30, 40 Jahren sein. „Obwohl, so schick wie der Mann bist du dann nicht“, schränkt sie ihre Prognose ein. Selbstverständlich hat sie mit diesem Urteil recht (Stichwort kurze schwarze Jogginghosen). Dennoch ist das unnötig harsch formuliert und lässt jedwedes Feingefühl vermissen. So wird das später nichts mit den von ihr erhofften Städtereisen in geriatrischer Zweisamkeit.
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Nach dem Frühstück gehen wir zum Vieux Port, dem Alten Hafen. Das steht in unserem Reiseführer. Dass der Hafen Ausgangspunkt zur Erkundung der Stadt sei. Außerdem gäbe es dort jeden Morgen einen pittoresken Fischmarkt.
Anscheinend haben die Reiseführer-Autorin und ich ein unterschiedliches Verständnis von der Bedeutung des Wortes pittoresk. Ich sehe nur ein paar improvisierte Stände, an denen der Fang des Tages verkauft wird. Eigentlich nur ein paar klapprige Stehtische unter weißen Zeltplanen, die schon bessere Zeiten erlebt haben, was aber ziemlich lange her ist. (Ich möchte allerdings nicht ausschließen, dass der malerische Fischumschlageplatz, von dem in dem Reiseführer die Rede ist, in einer anderen Ecke des Hafens stattfindet oder wir zu spät waren.)
Der Hafen ruft bei mir eine Mischung aus Fernweh, Seefahrerromantik und eskapistischen Schwärmereien hervor. Einfach ein Schiff nehmen, Richtung Horizont segeln und den Alltag Alltag sein lassen. Eine merkwürdige Phantasie für mich. Ich bin überhaupt kein großer Fan von Booten. Nichts liegt mir ferner als mit einem Schiff hinaus aufs Meer zu fahren. (Oder auf einen großen See. Oder einen kleinen.)
Unterdessen findet im Hafen eine kleine Demo statt. Eine Gruppe von 30 bis 40 Menschen hält bunte Schilder hoch, auf denen sie Worte in einer Sprache gepinselt haben, die ich nicht entziffern kann. Könnte arabisch sein. Allerdings sehen die Demonstrierenden nicht sehr arabisch aus. Keine Ahnung, um was es geht. Vielleicht ist es auch keine Demo, sondern eine dadaistische Kunstaktion.
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Vom Hafen aus laufen wir durch kleine, enge Gassen immer weiter nach oben. Wir wollen einen Ort finden, wo wir einen guten Ausblick auf Marseille haben. Das war einer der 5 surprising tips for getting the most out of your trip abroad von Dan Pink in seinem Pinkcast – sorry, ich habe mir den Namen nicht ausgedacht –, den ich kürzlich gesehen habe.
- Gehe zum höchsten Punkt der Stadt.
- Kaufe eine Lokalzeitung.
- Fahre mit den öffentlichen Verkehrsmitteln.
- Verbringe eine Stunde in einem Supermarkt.
- Gehe zu McDonald’s, um zu sehen, wie sich das Angebot dort unterscheidet.
Auf die Fahrt mit dem ÖPNV verzichten wir, weil uns das zu stressig ist, in den Supermarkt gehen wir in den nächsten zwei Wochen noch häufig genug, eine Zeitung kaufen wir uns auch nicht, weil wir denken, wir wissen genug über Frankreich (was natürlich nicht stimmt), aber aus Bequemlichkeit gehen wir später tatsächlich zu McDonalds. Da ich vor drei, vier Jahren das letzte Mal in Deutschland bei McDonalds war, kann ich allerdings nicht sagen kann, ob sich das Sortiment groß unterscheidet. Zumindest gibt es hier weder McFoieGras noch McMoules oder McFroschschenkel, was gleichermaßen enttäuschend und beruhigend ist.
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Unsere Suche nach einem guten Aussichtspunkt bringt uns zur Notre-Dame de la Garde. Eine Marien-Wallfahrtskirche, die Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut wurde – wie ich später bei Wikipedia nachlese – und auf einer Höhe von fast 150 Metern den schönsten Blick über ganz Marseille bietet – wie ich später in unserem Marco-Polo-Reiseführer nachlese. Von der einen Seite der Aussichtsplattform ist der Hafen zu sehen. (Bitte fragen Sie mich nicht in welcher Himmelsrichtung er liegt. Es hat schon seinen Grund, warum ich Erdkunde nach der 10. abgewählt und später etwas Geisteswissenschaftliches studiert habe.) Direkt hinter dem Hafen beginnt das Meer. Das macht ja auch Sinn, ihn ans Meer zu bauen und nicht ins Gebirge. (Das weiß ich sogar, ohne dass ich Erdkunde in der Oberstufe hatte.)
Weiter links gibt es einige Villen mit großzügigen Gärten, noch weiter links werden die Häuser höher, die Bebauung dichter, die Straßen enger und die Stadt schiebt sich wie ein Moloch ins Umland. In der Ferne erkenne ich das Fußballstadion von Olympique Marseille. Sieht aus wie ein Ufo, das in der Stadt gelandet ist.
Fun Fact am Rande: Anfang der 90er Jahre hat Olympique Marseille als erste Mannschaft die neu eingeführte Champions League gewonnen. Mit Rudi Völler als Stürmer. Bernard Tapie war Eigentümer des Vereins und ein hohes Tier bei Adidas. Später musste er wegen Spielmanipulationen ins Gefängnis. Warum weiß ich so etwas, aber nicht wo hier Norden oder Süden ist?
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Auf unserem weiteren Weg durch Marseille laufen wir immer wieder an beeindruckenden Statuen vorbei. Die nachgebildeten Personen sind mir allesamt unbekannt. Ich bin aber zu träge, um mich anhand der Sockel-Inschriften genauer beziehungsweise überhaupt zu informieren. Schließlich mache ich keine Bildungsreise der Volkshochschule Berlin-Moabit Auf den Spuren der Marseiller Dichter, Denker und Dumpfbrumsen von 1183 bis zur Gegenwart. Nein, heute ist der erste Tag unseres Urlaubs. Da ist mein Gehirn auf Entspannung und allenfalls Krimilektüre am Strand eingestellt und nicht darauf, bildungsbürgerlichen Distinktionsdünkel an den Tag zu legen.
Trotzdem faszinieren mich die Statuen. Vor hunderten von Jahren haben Künstler mit Hammer und Meißel aus einem Stück Stein detailgetreu, anatomisch akkurat perfekte Menschenfiguren inklusive ausdrucksstarker Mimik gepickelt. Und für mich ist es eine motorische Herausforderung, ein Punkt-Punkt-Komma-Strich-Mondgesicht unfallfrei auf ein Blatt Papier zu bekommen.
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Alle Beiträge des Cassis-Urlaubsblogs finden Sie hier.
- Vorbereitung 1 (06.07.): Was Sie noch nie über Cassis wissen wollten und deshalb nicht zu fragen wagten
- Vorbereitung 2 (07.07.): Auch Nicht-Nicht-Stammfriseurinnen können gut Haare schneiden
- Anreise (08.07.): Nur Amateure erreichen ihre Anschlusszüge sofort
- Tag 01 (09.07.): Sightseeing in Marseilles. Oder: So weit die Füße tragen.
- Tag 02 (10.07.): Der mit der Kaffeemaschine tanzt. Oder sie mit ihm.
- Tag 03 (11.07.): Wer hoch läuft, muss noch höher laufen. Und dann noch höher.
- Tag 04 (12.07.): In der Ferne zirpen die Zikaden. Und in der Nähe. Und einfach überall.
- Tag 05 (13.07.): Ein Tag ohne Routinen. Fast wie im Urlaub.
- Tag 06 (14.07.): Liberté, égalité, fraternité! Oder: Ein Feuerwerk wie ein Drogenrausch
- Tag 07 (15.07.): Tage, an denen du vom Schwitzen schwitzt
- Tag 08 (16.07.): Morning has broken
- Tag 09 (17.07.): Ein Königreich für ein Wasser, Wasser, Wasser
- Tag 10 (18.07.): Je ne parle pas français. Really not.
- Tag 11 (19.07.): Was macht die Taube am Strand?
- Tag 12 (20.07.): Türlich, türlich!
- Tag 13 (21.07.): The boat that rocked
- Tag 14 (22.07.): Ein letztes Mal
- Heimreise (23.07.): Au revoir!
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
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