Meinen Gedanken nachhängen ist auch okay. Zum Beispiel über das Meer. Das war schon immer da und wird immer da sein. Zumindest bis die Erde verglüht, weil sich die Sonne in eine Supernova verwandelt hat.
Immer und ewig war das Meer natürlich nicht schon da. Aber schon seit tausenden Jahren. Seit zehntausenden. Oder hunderttausenden? Bestimmt noch viel länger, aber ohne Google weiß ich das nicht so genau.
Da musst du vorsichtig sein. Wenn du behauptest, das Meer und die Erde seien erst zehntausend Jahre alt, wirst du im günstigsten Fall für ungebildet gehalten und im ungünstigsten für einen die Evolution leugnenden Kreationisten. Und dann giltst du ganz schnell als Aluhut-Träger und Verschwörungstheoretiker und das will kein Mensch. (Außer du bist Kreationist, Aluhut-Träger und Verschwörungstheoretiker, dann kümmert dich das vermutlich nicht.)
Nun gut, ich weiß ohne Internetzugang nicht genau, wann der Urknall war und wann das Meer entstanden ist, aber ein paar Milliarden Jahre wird das schon her sein. (Ein paar Jahre mehr oder weniger sind bei so einer Zeitdimension nicht so entscheidend.)
Faszinierend, was das Meer schon alles erlebt hat. Die Dinosaurier, den Untergang des Römischen Reiches, die Renaissance, die Weltkriege, die Mondlandung, Helmut Kohl, Modern Talking und all die geschichtlichen Ereignisse in Asien, Afrika und Lateinamerika, von denen ich ohne Internetzugang auch nichts weiß.
Und dem Meer ist alles egal. Wirklich alles. Der Lieblingsverein hat verloren? Egal. Die private Altersvorsorge reicht nicht aus? Egal. Du schaffst es nicht, deinem ausuferndem Hüftspeck Einhalt zu gebieten? Egal. Friedrich Merz wird Bundeskanzler? Egal.
Gut, das Meer kann auch nicht „The Bear“ schauen, Käsekuchen essen oder am Kopf eines Babys riechen. Aber dafür ist ihm vollkommen wumpe, ob Friedrich Merz Bundeskanzler wird. Beneidenswert.
Am Strand sind erstaunlich viele Frauen oben ohne unterwegs. Wegen nahtloser Bräune und so. Ebenfalls erstaunlich viele Frauen treiben am Strand barbusig Sport, spielen Beach Tennis oder machen Dehnübungen.
Für einen Moment dachte ich, wir liegen im FKK-Bereich, weil hier so viele halbnackte Frauen rumlaufen. Bestimmt ein Dutzend. Das ist ungefähr zwölfmal mehr als letztes Jahr in Portugal.
Nageln Sie mich nicht fest, ob es wirklich zwölf Oben-ohne-Frauen sind, die ich gesehen habe. Das ist eine Schätzung von mir, ich habe das nicht genau nachgezählt.
Du kannst schließlich nicht mit einer Strichliste über den Strand laufen und die Barbusigen durchzählen. Da giltst du ganz schnell als Perverser und mein Spanisch ist zu schlecht, um zu erklären, dass das rein wissenschaftlichen Zwecken dient. Dazu würde selbst mein Englisch nicht ausreichen, wahrscheinlich nicht einmal mein Deutsch.
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Abends Telefonat mit den Kindern. Zuerst mit der Tochter. Sie und C. schauen zurzeit eine Survival-Show auf Netflix, in der die Teilnehmenden mit sehr wenig Ausrüstung in Alaska überleben müssen. Das wäre nichts für sie, meint die Tochter. Sobald sie ein Geräusch hören würde, das nur im Entferntesten auf Bären oder Wölfe hindeutete, würde sie sofort die Leuchtfeuer-Pistole abfeuern, um zu signalisieren, dass sie abbrechen will.
Ich vermute, sie würde wahrscheinlich schon bei der Sichtung einer Spinne, einer Motte oder irgendeines Käfers die Pistole benutzen. Noch wahrscheinlicher würde sie bei so einer Show gar nicht mitmachen. Wobei das vielleicht eine interessantere Sendung wäre: eine Survival-Show mit lauter Insektenphobiker*innen.
Anschließend Video-Anruf beim Sohn. Seit unserer Abreise hat er einen Oberlippenbart und ein Kinnbärtchen kultiviert, was ihm das Aussehen eines spanischen Adligen verleiht. Zumindest aus einer bestimmten Kameraperspektive und bei schummrigem Licht. Und wenn du nicht weißt, wie spanische Adlige aussehen.
Er berichtet, er hätte jeden Tag Blumen gegossen, die sähen aber trotzdem voll trocken aus. Ich möchte nicht ausschließen, dass er die Blumengießerei irgendwann aus den Augen verloren hat und uns jetzt beibringen will, uns besser geistig schon mal von der Balkonbepflanzung zu verabschieden.
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Während des Abendessens fotografieren sich erneut zwei junge Frauen am Strand gegenseitig. Sie posieren stehend und sitzend vor den Wellen. Bestimmt war die heutige Aufgabe in der Influencer-Academy: Nutze die Natur als deine Kulisse.
Bilanz des Tages
- 19 Kilometer gelaufen, 15 davon flott
- 22.078 Schritte gegangen
- 44,94 Euro im Supermarkt bezahlt
- 1 Nickerchen vor dem Strandbesuch gemacht
- 1 Nickerchen während des Strandbesuchs gemacht
- 2 Telefonate mit den Kindern geführt
- 1 Kniffel geworfen
- 3 Partien Kniffel verloren
Alle Beiträge des ¡Hola España!-Blogs finden Sie hier:
- Vorbereitung (03.09.): Zurück in die Vergangenheit
- Anreise (04.09.): Auf Kaffeefahrt mit der Deutschen Bahn
- Barcelona (1) (05.09.): Immer geradeaus
- Barcelona (2) (06.09.): Saubere Brillen und wütende Kartoffeln
- Ankunft (07.09.): Blick aufs Meer (und ein bisschen Parkplatz)
- Tag 01 (08.09.): Lauf, Christian, lauf
- Tag 02 (09.09.): Do you need a good one or a normal one?
- Tag 03 (10.09.): Dem Meer ist alles egal
- Tag 04 (11.09.): Nationalfeiertagsfeierlichkeiten Fehlanzeige
- Tag 05 (12.09.): Vom Winde gemobbt
- Tag 06 (13.09.): Mein Name ist nicht Bond
- Tag 07 (14.09.): Man spricht kein Deutsch
- Tag 08 (15.09.): Das ganze Leben ist ein Fake. (Zumindest auf der Strandpromenade Richtung Salou)
- Tag 09 (16.09.): Ein Hollywood-Blockbuster für einen Käsekuchen
- Tag 10 (17.09.): Der mittelalte weiße Mann und das Meer
- Tag 11 (18.09.): Kein Regen im Nichts
- Tag 12 (19.09.): Helga, die Schreckliche
- Tag 13 (20.09.): Ein nasser Abschied
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)