Der alljährliche Urlaubsblog. Aus Spanien. Nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Falls Sie, aus welchen Gründen auch immer, alle Beiträge des ¡Hola España!-Blogs lesen möchten, werden Sie hier fündig.
6 Uhr. Der Wecker klingelt. Ich habe kein Deja-vu, sondern der nächste lange Lauf will gelaufen werden. Sollte gelaufen werden, muss gelaufen werden. Bin ein bisschen besorgt, dass das so schlimm wird wie letzten Sonntag. Da lag die Luftfeuchtigkeit bei 1.000 Prozent. Nicht gefühlt, sondern real.
Trete auf den Balkon. Draußen ist es stockdunkel, das Meer rauscht gruselig. Hoffentlich macht hier kein Serienmörder Urlaub. Oder noch schlimmer: Workation. Allerdings ist Wochenende. Da muss er nicht arbeiten. Außer er ist selbstständig und kann sich seine Projekte einteilen, wie er möchte. Dann fängt er aber bestimmt nicht Samstagmorgens um 6 Uhr an. Oder?
Zwänge mir eine Banane rein, eine weitere hinterher. Anschließend zwei Gläser Wasser und einen Kaffee. Irgendwie muss ich wach werden. Nun erstmal Toilette, kurz danach erneut. Noch ein schneller Blick in die Social-Media-Kanäle, anschließend etwas Alibi-Stretching.
Kann das Training nicht weiter hinauszögern und begebe mich auf die Strandpromenade.
- Kilometer 0: Hatte mir überlegt am Anfang, alle zehn Kilometer und zum Schluss ein Selfie zu posten. Zur Dokumentation meiner körperlichen Entwicklung. Beziehungsweise meines körperlichen Verfalls. Schaue mir das erste Selbstporträt an. Verwerfe das Projekt sofort. Wenn ich jetzt schon so aussehe, möchte ich niemandem meinen Anblick nach 35 Kilometern zumuten.
- Kilometer 1: Eine Großmutter fährt ihr frühaktive Enkelkind im Kinderwagen spazieren. Die Frau ist unwesentlich älter als ich. Nicht darüber nachdenken.
- Kilometer 2: Verspüre schon wieder starken Harndrang. Zwischenstopp im Strand-WC. Mittelmäßig gute Entscheidung. Dagegen sind Festival-Dixie-Klos Wellness-Oasen.
- Kilometer 3: Laufe dem Sonnenaufgang über Salou entgegen. Sehr malerisch.
- Kilometer 4: Die tiefstehende Sonne blendet mich. Wie lange dauert es, bis ich blind werde?
- Kilometer 5: Muss schon wieder aufs Klo. Kein Strand-WC in Sicht.
- Kilometer 6: Wildpinkeln kommt mir in den Sinn. Zu viele Menschen und zu wenige Büsche.
- Kilometer 7: Entdecke in Salou eine öffentliche Toilette. Ist aber nur zwischen 10 und 18 Uhr in Betrieb. Schlechtere Ladenöffnungszeiten als im deutschen Einzelhandel der 90er.
- Kilometer 8: Neue Idee: Einfach in die Hose machen. Pro: Ich muss nur klein. Contra: Immer noch zu viele Menschen.
- Kilometer 9: Laufe durch den Ballermann Salous. Ein Pub neben dem anderen. The Red Lion, Captain Jack, Last Order. Hätten wir schon 23 Uhr, könnte ich auf den Bürgersteig pinkeln.
- Kilometer 10: Entdecke neben einer Großbaustelle ein abgeschiedenes Gebüsch. Erleichterung. (Hoffentlich kommt der Wachschutz nicht vorbei.)
- Kilometer 11: Es geht abwärts. Jetzt ganz schön, auf dem Rückweg wahrscheinlich nicht.
- Kilometer 12: Erreiche eine Stadt, keine Ahnung welche.
- Kilometer 13: Komme an eine Schnellstraße. Umdrehen.
- Kilometer 14: Beobachte Fotoshooting am Strand. Professionell. Die fotografierte Frau zieht gerade ihr Bikinioberteil aus. Vielleicht bilde ich mir das auch ein, mein Augenlicht ist von der tiefstehenden Sonne vorhin immer noch stark eingeschränkt.
- Kilometer 15: Nur noch 20 Kilometer. Wobei nur relativ ist. Nur rückwärts ist run. Keine Ahnung, was ich mit dieser Eingebung anfangen soll.
- Kilometer 16: Es geht aufwärts. Die Strecke, nicht meine Form.
- Kilometer 17: Werde zunehmend langsamer.
- Kilometer 18. Passiere ein Hotel. Erinnere mich nicht, dass das auf dem Hinweg schon hier stand. Allerdings unwahrscheinlich, dass es in der Zwischenzeit gebaut wurde.
- Kilometer 19: Kann mich auch an diesen Abschnitt nicht erinnern. I have no memory of this place.
- Kilometer 20: Bin froh, kein Selfie machen zu müssen.
- Kilometer 21: Mein linker Fuß tut weh.
- Kilometer 22: Bekämpfe die Erschöpfung mit einem Energie-Gel. Reiße den Beutel nicht richtig auf. Energie nur tröpfchenweise.
- Kilometer 23: Linker Fuß tut immer noch weh. Versuche, in den Schmerz zu laufen, weiß aber nicht, was das bedeutet.
- Kilometer 24: Meine Nase läuft. Sehr. In den Bart rein. Mein Schweißband müffelt. Sehr. Möchte mir damit nicht die Nase abwischen und lasse sie tröpfeln. Bin ich halt der Typ, der den Lustwandelnden auf der Promenade die Frühstückslust verdirbt.
- Kilometer 25: Komme an unserer Ferienwohnung vorbei. Verdränge den Gedanken, dass 25 Kilometer auch schon ein langer Lauf sind und ich aufhören könnte.
- Kilometer 26: Frage mich, warum A. und ich uns beim Köln Marathon angemeldet haben. Midlife Crisis? Das nächste Mal Porsche kaufen.
- Kilometer 27: Weiteres Energie-Gel. Aufreißen und Zufuhr diesmal einwandfrei.
- Kilometer 28: Das Gel wirkt. Überhole eine ältere, korpulente Joggerin. Auch die kleinen Erfolge zählen.
- Kilometer 29: Mein rechtes Knie tut weh. Hoffe, das lenkt von den Schmerzen im Fuß ab. Fehleinschätzung.
- Kilometer 30: Ein Typ mit Lockenmähne und rotem Stirnband überholt mich.
- Kilometer 31: Der Typ kommt mir entgegen.
- Kilometer 32: Der Typ überholt mich wieder. Ist das immer der Gleiche oder sind das Drillinge, die ein diabolisches Hase-und-Igel-Spiel mit mir spielen?
- Kilometer 33: Fummle am letzten Energie-Gel-Beutel rum und renne fast eine Läuferin vor mir um, die mit ihrem neonorangenen Shirt eigentlich nicht zu übersehen ist. Sie denkt bestimmt: „Was für ein Penner.“ (Ich auch)
- Kilometer 34: Noch 1.000 Schritte, noch 999 Schritte, noch 998 Schritte, noch 997 Schritte, … Egal.
- Kilometer 35: Endstation Ferienwohnung. Ich fühle nichts. Außer meinen linken Fuß.
Als ich die Ferienwohnung betrete, mustert mich meine Frau an und sagt: „Du siehst heute nicht so schlecht aus wie letzte Woche.“
Was meint sie damit? Dass ich heute gut und letzte Woche schlecht aussah? Oder heute schlecht und letzte Woche noch schlechter. Egal, nach 27 Jahren Beziehung hinterfrage ich das nicht weiter und nehme es als Kompliment an.
Alle Beiträge des ¡Hola España!-Blogs finden Sie hier:
- Vorbereitung (03.09.): Zurück in die Vergangenheit
- Anreise (04.09.): Auf Kaffeefahrt mit der Deutschen Bahn
- Barcelona (1) (05.09.): Immer geradeaus
- Barcelona (2) (06.09.): Saubere Brillen und wütende Kartoffeln
- Ankunft (07.09.): Blick aufs Meer (und ein bisschen Parkplatz)
- Tag 01 (08.09.): Lauf, Christian, lauf
- Tag 02 (09.09.): Do you need a good one or a normal one?
- Tag 03 (10.09.): Dem Meer ist alles egal
- Tag 04 (11.09.): Nationalfeiertagsfeierlichkeiten Fehlanzeige
- Tag 05 (12.09.): Vom Winde gemobbt
- Tag 06 (13.09.): Mein Name ist nicht Bond
- Tag 07 (14.09.): Man spricht kein Deutsch
- Tag 08 (15.09.): Das ganze Leben ist ein Fake. (Zumindest auf der Strandpromenade Richtung Salou)
- Tag 09 (16.09.): Ein Hollywood-Blockbuster für einen Käsekuchen
- Tag 10 (17.09.): Der mittelalte weiße Mann und das Meer
- Tag 11 (18.09.): Kein Regen im Nichts
- Tag 12 (19.09.): Helga, die Schreckliche
- Tag 13 (20.09.): Ein nasser Abschied
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)