Cassis 2022 – Tag 08 (16.07.): Morning has broken (Teil 2)

Teil 1


Ein weiterer Supermarktbesuch steht an. In früheren Urlauben in der Bretagne sowie bei Besuchen von Freunden in der Nähe von Toulouse haben wir französische Supermärkte kennen und schätzen gelernt. Die waren alle riesig. So groß wie 38 Fußballfelder. Oder wie ein Saarland. Die Obst- und Gemüseabteilungen waren dort so riesig, dass es mehrere Tagesreisen brauchte, um sie zu durchqueren. Das weitere Lebensmittelsortiment erstreckte sich über kilometerlange Regalreihen, zusätzlich gab es überbordende Frischetheken mit Käse, Fleisch- und Wurstwaren sowie Meeresbewohnern und einen monströsen Wassertank mit lebenden Fischen, Krebsen und Hummern. Das war ein bisschen gruselig, aber auch praktisch. Vor dem Wassergetier konnten wir die Kinder parken und in Ruhe einkaufen.

Falls Sie sich fragen, ob das nicht kindswohlgefährdend war, die Kinder da alleine zu lassen, kann ich sie beruhigen. Ganz im Gegenteil war das sogar pädagogisch besonders wertvoll. In der Stadt haben Kinder nur begrenzten Kontakt zu Tieren. Abgesehen von Hunden, Tauben und der ein oder anderen Ratte. Da ist es ganz schön, wenn sie Tiere live und in Farbe sehen können.

Allerdings sind wir unserem tierweltlichen Bildungsauftrag nicht vollumfänglich nachgekommen. Dass die Fische und Schalentiere aus dem Aquarium getötet und gegessen werden, haben wir den Kindern verschwiegen. (Die Generation Bärchenwurst isst zwar Wurst mit Tiergesichtern, ist aber ansonsten etwas sensibel, was den Verzehr von Tieren angeht.)

In Cassis gibt es drei Supermärkte. Zumindest laut Google Maps. Vielleicht gibt es noch weitere, die tauchen bei Google Maps aber nicht auf. Und was nicht bei Google Maps auftaucht, ist heutzutage quasi nicht existent.

Von diesen Supermärkten hat keiner Saarland-Ausmaße. Zwei sind sogar ziemlich klein. Etwas bessere Tante-Emma-Läden. Der Supermarkt, zu dem wir immer gehen, hat zumindest die Fläche eines Fußballfeldes. Oder eines Achtunddreißigstel Saarland. Damit ist er ungefähr so groß wie der Rewe-City-Markt bei uns in Moabit. Aber deutlich weniger abgeranzt. Außerdem liegt er etwas näher zu unserer Ferienwohnung als die beiden anderen Märkte. Das hat ihn endgültig zum Einkaufsort unserer Wahl qualifiziert.

Der Erlebnisfaktor des Einkaufs ist in dem Fußballfeld-Markt natürlich nicht ganz so groß wie in den Mega-Märkten in der Bretagne oder Toulouse. Es gibt keine ausufernden Käse- oder Fleisch/Wurst-Frischetheken und schon gar keine Becken mit Aqua-Live-Show. Aber das macht nichts. Mit 15 und 18 sind die Kinder dem Quengelalter entwachsen und wir müssen sie nicht mehr während eines 45-minütigen Einkaufs mit lebenden Fischen, Krebsen und Hummern bei Laune halten. (Zur Not schicken wir sie einfach zu den Regalen mit den Süßigkeiten und Keksen.)

Trotz der überschaubaren Größe des Supermarkts entdecke ich einige Produkte, die es so nicht in deutschen Geschäften gibt. Zum Beispiel wahnsinnig viele Sorten Bonne-Maman-Marmeladen, -Konfitüren und -Gelees. Mein „Französisch“ reicht allerdings in den meisten Fällen nicht aus, um auf den Etiketten zu identifizieren, welches Obst da verarbeitet wurde. Und mein Entdeckungsdrang ist nicht groß genug, um meine LEO-App für die Übersetzung zu konsultieren. Schließlich bin ich im Urlaub und nicht im Erwachsenenbildung-Kurs „Französisch für Fortgeschrittene“.

Prinzipiell lassen sich die verschiedenen Marmeladen wie in Deutschland in die Kategorien „Rot” („Rouge“) und „Orange” („Orange”) einsortieren. Außer einem Glas, dessen Inhalt eine gräulich-grüne Färbung aufweist. Ich tippe auf Rhabarber-Konfitüre. Oder stark verschimmelte Aprikosenmarmelade.

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Während des Abendessens regt meine Frau an, in den nächsten Tagen etwas zu unternehmen. Wir hätten eine Woche lang am Strand abgehangen, da könnten wir uns jetzt mal etwas anschauen. Der Rest der Familie reagiert nicht gerade mit überschäumendem Enthusiasmus. Beim Sohn erkenne ich einen Anflug von leichter Panik im Gesicht.

Meine Frau, die ihre Familie seit vielen Jahren kennt, hat mit dieser Reaktion gerechnet und ein paar Optionen aus unserem Reiseführer vorbereitet. Wir könnten zum Beispiel nach La Ciotat fahren, das sei nur zehn Minuten mit dem Zug entfernt, erklärt sie. Dort gäbe es das erste Kino der Welt. Der Gesichtsausdruck der Kinder deutet darauf hin, dass meine Frau noch ein wenig an ihrem Sales Pitch für La Ciotat arbeiten muss.

Bandol wäre auch eine Möglichkeit, fährt sie mit ungebremstem Eifer fort. Das wären auch nur 20 Minuten mit dem Zug und da gäbe es eine schöne Altstadt. Die Mimik der Kinder ist ein einziges „Warum? Wir haben nichts angestellt!“

Ich finde, das hört sich gar nicht schlecht an. Allerdings muss ich eingestehen, dass Altstädte interessant zu finden, ein untrügliches Zeichen ist, dass du alt wirst. Beim Besichtigen einer Altstadt überanstrengst du dich körperlich nicht und bekommst auch nicht vor Aufregung Herzrasen. Außerdem wirkst du beim Flanieren durch kopfsteingepflasterte Gassen neben den hunderte Jahre alten, schiefen und krummen Häusern wie ein vitaler Jungspund. („Besuch der Altstadt von Bandol“ ist bestimmt ein beliebter Programmpunkt auf dem jährlichen Sommerausflug der Seniorenresidenz „Meerblick“.)

Meine Frau hat ihre „Lasst uns was unternehmen“-Munition noch nicht verschossen. „Wir könnten eine Bootstour durch die Calanque machen“, schlägt sie mit irritierender Fröhlichkeit vor. „Da gibt es wunderschöne Badebuchten und Strände zu sehen.“ Ein Argument, das auf tönernen Füßen steht. Badebuchten und Strände möchtest du nicht anschauen, sondern du möchtest dort baden. Du geht ja auch nicht Kaffee trinken und guckst dir Bilder von Torten und Kaffeespezialitäten an.

„Oder wir wandern durch die Calanque und baden an einem der Strände“, fährt meine fort. Das hört sich schon besser an. Abgesehen vom Wandern. „Das sind nur fünf Kilometer hin und fünf Kilometer zurück.“ Die geweiteten Augen der Kinder signalisieren, dass sie eine andere Auffassung als ihre Mutter haben, was die angemessen Verwendung des Wörtchens „nur“ im Zusammenhang mit Entfernungsangaben angeht.

Die Tochter schüttelt den Kopf. „Was ist denn los mit euch?“, mault sie. „Früher sind wir einfach vierzehn Tage an den Strand gegangen und da wolltet ihr nie Action machen. Wir sind doch keine Hyperaktive.“

Vielleicht vertagen wir das Thema Unternehmungen auf einen anderen Tag. Auf nach dem Urlaub oder so.

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Der Sohn unternimmt mit einer 317er-Runde einen Angriff auf die Kniffel-Gesamtwertung, bleibt aber vorerst auf dem dritten Platz. Ich habe einen Vorsprung von knapp 170 Punkten auf meine Frau. Bei noch sechs ausstehenden Runden scheint es mir dennoch ein bisschen früh zu sein, um T-Shirts mit der Aufschrift „Cassis Kniffel-Cup-Sieger 2022“ drucken zu lassen.


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Cassis 2022 – Tag 08 (16.07.): Morning has broken

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„Ist das Kotze auf dem Boden?“ Eine Frage, die du dir lieber nicht stellen möchtest, wenn du vor die Tür trittst. Eigentlich wollte ich meinen morgendlichen Lauf in Angriff nehmen. Nun inspiziere ich erstmal die Lache im Eingangsbereich vor unserer Ferienwohnung. Gelblich, breiig-wässrig mit bunten, kleinen Bröckchen. „Joa, das ist Kotze“, schlussfolgere ich. Weil ich mir dabei wie Sherlock Holmes vorkomme, bin ich kurz davor, eine imaginäre Pfeife zu paffen.

Ich habe eine Vermutung, von wem der Kotzflatschen stammt. Unsere Ferienwohnung liegt im Erdgeschoss eines dreistöckigen Appartement-Komplexes. Die Wohnung über unserer haben gestern drei junge Männer, circa Anfang 20, bezogen. Abends gingen sie runter in den Ort zum Feiern. Als sie zu später – beziehungsweise früher – Stunde zurückkamen, arrangierten sie erstmal ihre Wohnungseinrichtung um. Zumindest hörte es sich im Halbschlaf so an, als würden große Schränke kreuz und quer durch die Wohnung geschoben. Dem Lärm zufolge könnte sich aber auch eine Gruppe Clogs tragender Elefanten an einem Irish Dance versucht haben. (Ich möchte nicht ausschließen, dass unsere neuen Nachbarn Frankreichs Vergeltung für die deutschen Proll-Assis im Zug nach Marseilles sind.)

Ich halte es für eher unwahrscheinlich, dass das ältere Ehepaar aus der Ferienwohnung neben uns vor unsere Tür gekotzt hat. Aufgrund der nächtlichen Geschehnisse erscheint es mir naheliegender, dass einer der feierbiestigen Knaben oben von der Brüstung zu uns runter gereihert hat. (Ob meiner holmesken Deduktionsfähigkeiten, bin ich erneut versucht, an der imaginären Pfeife zu ziehen.)

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Cassis 2022 – Tag 07 (15.07.): Tage, an denen du vom Schwitzen schwitzt (Teil 2)

Teil 1


Sehe am Strand in der Ferne ein Boot. Entweder eine sehr, sehr große Yacht oder ein sehr, sehr kleines Kreuzfahrtschiff. Sollte meine Erfindung mit der portablen Dusche richtig einschlagen, kann ich mir so ein Boot leisten.

Dabei will ich gar kein Boot haben. Egal, das kann ich ja verkaufen und von dem Geld hole ich mir ein richtig gutes Fahrrad. Oder einen Zug.

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Nach dem Strandbesuch kommt für mich immer der Höhepunkt des Tages: kalte Wassermelone!

Ja, ja, Sex ist geil, aber haben Sie schon mal, nachdem Sie bei 145 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von 412 Prozent einen 79.000 Meter langen Berg mit einer durchschnittlichen Steigung von 57 Prozent hochgegangen sind, Wassermelone gegessen, die seit vielen Stunden im Kühlschrank lag? Das ist süß und saftig, kühl und erfrischend, durstlöschend und super, super lecker.

Der Mensch lebt allerdings nicht von Melone allein. Sondern auch von Brioches. Die gehören zur Familie des süßen Hefegebäcks und sind artverwandt mit Campingwecken und Zimtschnecken. Sowohl geschmacklich als auch kalorisch. Brioches werden mit Ei bestrichen und mit Hagelzucker bestreut. Der Teig besteht zu 40 bis 50 Prozent aus Butter, was Brioches unfassbar lecker machts. (Alles, was zu 40 bis 50 Prozent aus Butter besteht, ist unfassbar lecker. Außer rohe Butter. Aber die besteht ja zu 100 Prozent aus Butter.)

Das berühmte Brot-Kuchen-Zitat von Marie- Antoinette lautete originalgetreu übrigens: „Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Brioches essen.“ Das macht die Aussage nicht weniger kaltherzig und unempathisch. Außerdem ist sie inhaltlich falsch. Selbst wenn du Brot hast, solltest du lieber Brioches essen.

(Geschichtsbewanderte Menschen – und alle, die die Worte Marie-Antoinette, Brot und Kuchen bei Google eingeben können – wissen selbstverständlich, dass Marie-Antoinette diesen Satz sehr wahrscheinlich nie gesagt hat, aber das tut hier nichts zur Sache)

Brioches sind so fluffig, luftig und weich, dass du am liebsten deinen Kopf darauf betten möchtest. Noch besser wäre es, eine Brioche-Matratze zu haben, auf der du liegen kannst. Das wäre himmlisch bequem, duftet vorzüglich und du müsstest nachts nicht aufstehen, um dir am Kühlschrank einen bis zehn Yogurette-Riegel reinzupfeifen. Du beißt einfach ein Stück aus deiner Matratze. Das macht die Brioche-Matratze besonders nachhaltig, denn sie muss irgendwann nicht entsorgt werden, sondern ist zu 100 Prozent biologisch abgebaut worden. Und dann backst du dir einfach eine neue Brioche-Matratze. Perfekt!

Nach der mobilen Dusche die nächste Eine-Milliarde-Dollar-Idee, die ich hier präsentiere. Wahnsinn! (Totsicher Business-Ideen wie diese sind der Grund, warum ich doch Geld für meine Blog-Beiträge nehmen sollte.)

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Nach dem Kaffeetrinken setze ich mich mit einem Buch auf dem Balkon auf eines der Korbsofas, die bequemer sind, als sie aussehen. Schnell merke ich, dass ein voller Bauch nicht gerne liest. Ich döse ein bisschen vor mich hin. Wenn ich schon dabei bin, kann ich gleich ein kleines Nickerchen einlegen.

Meine Frau macht ein Foto von mir. Ich sitze tief nach unten ins Sofa gerutscht, mein Kopf ist nach hinten abgeknickt und ruht auf der Rückenlehne. Im Sonnenschein kommt mein grauer weißer Bart besonders gut zur Geltung. Mein Mund ist leicht geöffnet, aber wenigstens läuft keine Spucke aus dem Mundwinkel. (Zumindest ist es auf dem Bild nicht zu erkennen.)

So wie ich da auf dem Sofa hocke, könnte ich ein geistig nicht mehr ganz frischer Bewohner der Seniorenresidenz „Meerblick“ sein, der auf dem Balkon abgestellt wurde, weil er da am wenigsten stört. Ist mir egal. So lange es mittags Brioches gibt, wohne ich später gerne im „Meerblick“. Oder jetzt schon.

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Beim Kniffeln schafft es die Tochter das erste Mal in diesem Urlaub nicht Letzte zu werden. Den Part übernehme ich. (Ich würde gerne behaupten, ich hätte das absichtlich gemacht, um ihre Pechsträhne zu beenden. Das ist aber nicht der Fall. Es geht immerhin um den Kniffel-Pokal und ein Spaghetti-Eis. Da verschenkst du nichts.) Meine Frau gewinnt mit 432 Punkten – zwei Kniffeln sei Dank – und schiebt sich zum Unwillen des Sohns auf den zweiten Platz der Gesamtwertung vor.

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Meine Frau und ich hören zum Einschlafen Die drei ???. Meine Meinung zu den drei ???-Hörspielen ist in der Familie singulär und auch in der Allgemeinheit wahrscheinlich eher unpopulär: Ich finde sie furchtbar. Das ist alles so hanebüchen und schlecht geschrieben, dass es mich schaudern, aber nicht einschlafen lässt.

Gibt es in ganz Rocky Beach wirklich keine besseren Detektive als drei altkluge Knaben, die ihr Büro auf einem Schrottplatz haben? Und wenn die Drei so unfassbar klug sind, warum gehen sie dann seit mehr als 50 Jahren immer noch zur High School?

Das Schlimmste an den Hörspielen sind die unfassbar hölzernen und geschwollenen Dialoge. Wer auch immer die verfasst, hat anscheinend noch nie dabei zugehört, wie sich Menschen unterhalten. Geschweige denn, selbst eine Unterhaltung geführt. Dass die jugendlichen Justus, Peter und Bob von 50-jährigen Männern gesprochen werden, macht es auch nicht besser.

Hoffentlich habe ich heute Nacht keinen Alptraum, bei dem mir nur die drei ??? aus der Patsche helfen können und die dann sagen: „Sorry, Alter, keine Zeit. Wir müssen zum Schrottplatz. Für die Schule lernen.“


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Cassis 2022 – Tag 07 (15.07.): Tage, an denen du vom Schwitzen schwitzt

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Ich öffne langsam die Augen und schaue aufs Handy. 7.45 Uhr. Für Mitte 40 ist das fast schon ausschlafen.

Draußen lärmen, schreien und ratschen die Zikaden fröhlich vor sich hin. Das werden sie ohne Unterbrechung den ganzen Tag bis zum Abend tun. Meine Güte, wie horny musst du sein, wenn du von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang rumblökst, wie geil du bist und dass du so richtig, richtig Bock auf Sex hast. Immer. Zu jeder Zeit. Dagegen kann das Sexualverhalten von Bonobos fast schon als zölibatär gelten.

Die Notgeilheit der Zikaden hat möglicherweise etwas mit ihrer Lebenserwartung zu tun. Sie werden nur ein paar Monate alt. Da willst du selbstverständlich sexmäßig alles rausholen, was es nur geht.

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Cassis 2022 – Tag 06 (14.07.): Liberté, égalité, fraternité! Oder: Ein Feuerwerk wie ein Drogenrausch

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Ist das ein Kampfhund auf dem Foto? Oder eine Mischung aus Rottweiler und Labrador?

Das frage ich mich, als ich auf meinem morgendlichen Lauf an einem Waldweg ankomme, der von einer Schranke versperrt wird. An der Schranke hängt ein Zettel. Mit dem sucht jemand nach seinem entlaufenen Hund. Von dem ich nicht weiß, ob es ein Kampfhund oder ein Kampf-Kuschel-Mischling ist.

Ich zögere, ob ich den Waldweg weiterlaufen soll. Zum einen wegen der Schranke. Die wird ja irgendeine beschränkende Bedeutung haben. Wahrscheinlich, damit keine Autos da langfahren. Oder es ist militärisches Sperrgebiet und wenn ich den Wald durchquere, nehmen mich ein paar treffsichere Scharfschützen ins Visier.

Zum anderen wegen des entlaufenen Hundes, von dem ich nicht weiß, ob es Attila ist oder ein Schmusebärchen mit Anger-Management-Problemen. Ich bin gerade den steilen Berg hinter dem Bahnhof hochgerannt. Deswegen habe ich große Zweifel, ob ich noch in der körperlichen und geistigen Verfassung bin, um bei einem Wettrennen mit einem ziemlich großen und vermutlich ziemlich schnellen Hund als Sieger hervorzugehen. Vor allem, wenn dieser seit Tagen auf Frolicentzug ist und meine Waden für ein schmackhaftes Mahl hält.

Was für das Weiterlaufen spricht? Ich habe mir für heute elf Kilometer vorgenommen. Auf die käme ich nicht so einfach, wenn ich jetzt nicht weiterlaufe. Umdrehen ist also keine Option. Ich schnaufe noch einmal tief durch, schlage den Waldweg ein und frage mich, ob das noch Leichtsinn oder schon Selbstüberschätzung, die an toxische Männlichkeit grenzt. Egal, wird schon nichts passieren. (Wäre eigentlich eine hübsche Grabinschrift, falls ich mit meiner Einschätzung falsch liegen sollte.)

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Cassis 2022 – Tag 06 (14.07.): Liberté, égalité, fraternité! Oder: Ein Feuerwerk wie ein Drogenrausch (Teil 2)

Teil 1


Am Strand sitzt ein älterer Mann vor uns auf seinem Badetuch. Er ist schätzungsweise Mitte 60, drahtig, sein weißer Haarkranz ist auf Raspellänge rasiert. Seine Badehose ist so knallrot, dass Wencke Myhre ihre helle Freude hätte. Der Herr ist stark sonnengebräunt, seine Haut spielt schon leicht ins Ledrige. Mit großer Sorgfalt und Akribie cremt er sich mit etwas ein, das wie Tiroler Nussöl aussieht.

Ich wusste gar nicht, dass es das noch gibt. So wie ich das in Erinnerung habe, ist Tiroler Nussöl keine Sonnenmilch. Mit der hast du dich eingeschmiert, damit deine Haut schön glänzt und du gebräunter aussiehst, als du bist. Ist heute kaum noch vorstellbar, wo die Verwendung von Sonnenmilch mit weniger als LSF 30 als eine Mischung aus Leichtsinn und autoaggressivem Verhalten gilt.

Komischer Name auch. Tiroler Nussöl. Heißt das so, weil es aus Nüssen hergestellt wird? Oder weil du nach dem Eincremen nach Nuss riechst? Oder wie eine aussiehst? Hoffentlich nicht wie eine Walnuss.

Keine Nuss, sondern Blumen.

Wir sind bisher sonnenbrandfrei durch den Urlaub gekommen. Wir benutzen ja auch Sonnenmilch mit LSF 50. Schließlich sind wir nicht leichtsinnig oder autoagressiv. Die Tochter hat nur ein dezent gerötetes Dekolleté, beim Sohn spielen die Schultern ganz leicht ins Rötliche.

Ich bin von geröteter Haut jedweder Schattierung verschont geblieben. Dafür haben sich auf der Innenseite meiner Oberschenkel ganz viele rote Pickelchen gebildet. Das sieht aber nicht nach Sonnenbrand aus, sondern wie ein ekliger Ausschlag, der in einem dermatologischen Handbuch im Kapitel „Absolut widerliche Hautanomalien“ behandelt wird. Eine Karriere als Oberschenkel-Model kann ich mir damit abschminken.

Vielleicht ist es eine Sonnenallergie. Dazu juckt es allerdings zu wenig. Oder ich reagiere auf unsere Sonnenmilch. Auch unwahrscheinlich. Die wirbt auf dem Etikett damit, sensitiv und antiallergen zu sein sowie keine Duftstoffe und keine Octocrylene zu enthalten. (Was auch immer das ist.)

Vermutlich kommt der Ausschlag vom Laufen. Wenn ich schwitze und die Hose darüber reibt. Das findet die Haut doof und sagt sich, wenn der Penner mich vollschwitzt, mach ich ihm dafür eklige Pickelchen.

Der Sohn bringt eine andere Möglichkeit ins Spiel: Affenpocken. Halte ich auch nicht für besonders wahrscheinlich. Aber er hätte bestimmt gerne eine gute Story, wenn ihn seine Kumpels fragen, wie es im Urlaub war.

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Nach dem Abendessen gehen wir noch einmal runter zum Strand. Wir wollen uns das Nationalfeiertags-Feuerwerk anschauen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals am Tag der Deutschen Einheit zu einem Feuerwerk gegangen zu sein. In einem anderen Land ist es aber auch ein Gebot der Höflichkeit, den Feiertagen deiner Gastgeber Respekt zu zollen. Außerdem ist Cassis nicht besonders reich an gesellschaftlich-kulturellen Höhepunkten. Da ist so ein Feuerwerk eine nette Abwechslung.

Noch sind es zwei Stunden, bis es losgeht. Der Strand ist trotzdem schon ziemlich voll. Im Gegensatz zu uns sind die anderen Schaulustigen bestens vorbereitet. Wir haben nur uns dabei, die anderen dagegen Decken, Kühltaschen und gut gefüllte Picknickkörbe. Pizza, Baguettes, Wraps, Salate, Chips, Kuchen und Kekse machen die Runde. Dazu werden Sekt, Wein und Bier sowie Softdrinks und andere alkoholfreie Getränke gereicht. Die Stimmung ist ausgelassen und fröhlich.

Links von uns sitzt eine Jugendgruppe. Der gutaussende, mittezwanzigjährige Betreuer wird von allen Mädchen angehimmelt. Und von der anderen Betreuerin. Er scheint nicht abgeneigt zu sein. (Bei der Betreuerin, nicht bei den Teenagerinnen.) Möglicherweise veranstalten die beiden später noch ihr eigenes Privat-Feuerwerk.

Ein Vater versucht, seine drei Jungs, schätzungsweise fünf, sieben und neun, in Schach zu halten. Die drei trinken Limo und freuen sich, dass sie heute länger aufbleiben dürfen. Irgendwann kickt der Zucker rein und sie freuen sich ekstatisch, dass sie heute länger aufbleiben dürfen. Da wird es mit dem In-Schach-halten für den Vater etwas anspruchsvoller.

Vor uns hat sich eine Gruppe von 20 bis 25 jungen Männern und Frauen ausgebreitet. Sie sehen aus wie der Cast eines französischen Autorenfilms. Alle sind lässig-modisch gekleidet, sehr attraktiv und reden unablässig. Und rauchen unablässig. Legales und illegales Rauchwerk. Ein bisschen unnahbar und distanziert wirken sie, wie sie da so sitzen. Fast ein wenig arrogant. Aber möglicherweise täuscht das. Vielleicht würden sie sich freuen, wenn ich mich zu ihnen gesellen und sagen würde: „Je m’apelle Christian. Tu t’apelle?“ Ganz im Sinne der Völker- und Generationenverständigung.

Pünktlich um 22.30 Uhr beginnt das Feuerwerk. Um uns herum wird geaaaht und geoooht, als hatten die Menschen noch nie in ihrem Leben ein Feuerwerk gesehen.

Musikalisch untermalt wird die Pyro-Choreographie von einer eigenartigen Mischung aus psychedelischem Rock und Flower-Power-Musik. Von den Stones über die Doors bis zu Donovan ist alles dabei. Ich wäre gerne bei der Gemeinderatssitzung dabei gewesen, als die Hintergrundmusik besprochen wurde.

„Wie wäre es mit einem Best of von Jacques Brel-Liedern?“
„Der war Belgier.“
„Dann vielleicht Edith Piaf?“
„Zu altmodisch.“
„Wir könnten französischen Hip-Hop spielen.“
„Zu neumodisch.“
„Ich habe zu Hause noch die CD Love, Lust & LSD
„Super, Jean-Pierre, die nehmen wir.“

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Obwohl es schon recht spät ist, müssen wir später noch unsere obligatorische Partie Kniffel spielen. Die ist nicht gerade ein Feuerwerk. Meine Frau gewinnt mit 268 Punkten. Bemerkenswert ist, dass der Sohn mit einer 114er-Runde nicht Letzter wird. Die Tochter kommt nur auf 112 und verliert zum sechsten Mal in Folge. Ich glaube, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich prophezeie, dass es für sie dieses Jahr mit dem Gesamtsieg eng wird.


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Cassis 2022 – Tag 05 (13.07.): Ein Tag ohne Routinen. Fast wie im Urlaub.

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7.30 Uhr. Die Zikaden lärmen draußen. Immerhin bin ich nicht sofort von ihrem Getöse aufgewacht. Möglicherweise ein erster Gewöhnungseffekt. Oder ich habe ihr Geratsche und Gekreische in meinen Traum eingebaut. Allerdings kann ich mich nicht erinnern, dass ich von einem Kettensägenmassaker geträumt habe.

Damit habe ich heute erneut ein wenig länger geschlafen als noch gestern. Ich nähere mich dem Konzept „Ausschlafen“ in kleinen Schritten. Oder in kleinen Schnarchern. (Miese Kalauer wie diese sind der Grund, warum ich für meine Blog-Beiträge kein Geld verlange.)

Das spätere Aufstehen bedeutet jedoch auch, dass ich erst später zum Laufen aufbreche. Kurz nach neun. Vorher wollte der Kaffee getrunken, der Balkon besessen, die Aussicht genossen und das Internet gelesen werden. Außerdem musste ich mich mental auf die Laufeinheit vorbereiten. Das hat am längsten gedauert.

Ich laufe wie immer bis zum Bahnhof. Dort drehe ich aber um, weil ich mir – und meinen Knien – nicht schon wieder den Anstieg aus der Läuferhölle geben will. Schließlich bin ich hier im Urlaub und nicht in einem Bootcamp für schwer erziehbare Jugendliche. (Angesichts meines Brioche- und Keks-Konsums möglicherweise in einem Bootcamp für schwer abnehmende Mittvierziger.)

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Cassis 2022 – Tag 05 (13.07.): Ein Tag ohne Routinen. Fast wie im Urlaub. (Teil 2)

Teil 1


In den letzten beiden Tagen war unser Hunger größer, als der vorgestrige Großeinkauf groß war. Der Kühlschrank ist nahezu leer und die Wasservorräte gehen zuneige. Wir müssen zum Supermarkt.

Diesmal konzentrieren wir uns tatsächlich auf die allernötigsten Grundnahrungsmittel. Das klappt recht gut. Wir brauchen ja keine neue Literflasche Aperol. (Für wie versoffen halten Sie uns eigentlich?) Außerdem haben wir Chips und Kekse als allernötigste Grundnahrungsmittel deklariert. Und Brioches. Das ist möglicherweise die Ursache, warum unser Wagen am Ende des Einkaufes nicht viel leerer ist als beim letzten Mal.

Vor uns hat sich eine niederländische Familie in die Schlage eingereiht. Ihr Wagen ist noch voller als unserer. (Respekt!) Sehr langsam und unkonzentriert packen sie ihre Waren auf das Kassenband. Mich macht das nervös. Gut, ich habe keinen Zeitdruck oder irgendwelche Anschlusstermine. Trotzdem möchte ich meinen Urlaub nicht unnötig lange in einer Supermarktschlange verbringen.

Noch mehr als das langsame Tempo irritiert mich, dass die Niederländer ihre Sachen vollkommen planlos auf das Band legen. Kreuz und quer. Ohne Sinn und Verstand. Ich bin kurz davor, mich vorbeizudrängeln, um ihren Wagen aus- und ihre Einkaufstüten einzuräumen. Was das angeht, bin ich ganz Deutscher: Das Kassenband muss mit System und Ordnung bestückt werden. Die schweren Sachen zuerst, dann die weichen und zum Schluss die zerbrechlichen. Und genauso muss das in die Einkaufstaschen wandern. Alles andere ist Unfug, Unsinn und Unvernunft.

Das Arbeitstempo der Kassiererin ist auch nicht gerade rekordverdächtig. Aus Deutschland bist du es gewohnt, dass die Kassierer*innen die Waren so schnell über den Scanner ziehen, dass du kaum hinterherkommst, sie wegzupacken. Die französischen Kolleginnen sind da wesentlich gemütlicher. Sie scannen die Produkte mit Gemach, kontrollieren regelmäßig auf dem kleinen Monitor, ob ihnen kein Fehler unterlaufen ist, und sind einem kleinen Schwätzchen nicht abgeneigt. Nicht mit den Kund*innen, sondern mit den Kassierer*innen links und rechts von ihnen.

Meine Tochter würde sagen: „Das ist ein You-Problem. Ist doch toll, wenn sich die Kassierer*innen nicht den Ausbeutungsmechanismen der kapitalistischen Lohnsklaverei unterwerfen.“ (Oder so etwas ähnliches.) Damit hat sie recht. Ein bisschen Entschleunigung hat ja etwas Gutes. Besonders im Urlaub ist das sehr erholsam.

Als wir an der Reihe sind, übernehmen die Kinder das Ausräumen der Waren aus unserem Wagen, meine Frau und ich verstauen diese in unseren Rucksäcken und Taschen. Ab und an werfe ich der Tochter und dem Sohn einen scharfen Blick zu, wenn sie mein striktes Wie-Lebensmittel-auf-das-Kassenband zu-legen-sind-Dogma missachten (Schwer → weich → zerbrechlich. Merken Sie sich das. Falls Sie an der Kasse mal vor mir stehen.)

Nach geraumer Zeit ist alles eingescannt. Der Betrag auf dem Kassendisplay ist wieder dreistellig. Vielleicht ist das langsame Tempo der Kassiererinnen doch nicht so schlecht. Dann dauert es länger, bis du erfährst, wieviel du bezahlen musst. Das ist auch sehr erholsam.

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Inzwischen ist es bereits 14.30 Uhr. Wir beschließen, nicht wie sonst an den Strand zu gehen, sondern ein bisschen durch das Städtchen zu flanieren. Nachdem ich heute schon eine andere Strecke gelaufen bin und bei einem anderen Bäcker war, brechen wir also mit einer weiteren Routine. Komme mir vor wie ein Hippie, der jegliche Strukturen und Regeln ablehnt und ziel- und planlos in den Tag lebt. (Andere Menschen nennen das Urlaub.)

„Durchs Städtchen flanieren“ ist keine tagesfüllende Beschäftigung, nicht einmal eine nachmittagfüllende, denn Cassis ist nicht sonderlich groß. Am Ende des Hafens gehen wir durch eine kleine Gasse. Nach einem kurzen Fußweg kommen wir an einem alten Haus vorbei.

Vielleicht ist das das Rathaus aus dem 16. Jahrhundert mit der alten Treppe. Oder eine der anderen Sehenswürdigkeiten, von denen ich im Internet gelesen hatte. Keine Ahnung. Das passiert mir häufig. Ich lese etwas und vergesse es direkt wieder. Manchmal während des Lesens.

Zumindest kann ich ausschließen, dass es sich bei dem Gebäude um den alten Gemeindebackofen handelt. Außer der ging über zwei Etagen und hatte eine große Flügeltür als Klappe.

Ein Schild am Straßenrand weist den Weg zu dem anderen Strand in Cassis. Den können wir uns ja mal anschauen. (Hoffentlich bekommt das unser Stamm-Strand nicht mit und ist beleidigt.) Die Straße zum Strand geht steil bergab, verfügt nur über einen sehr schmalen Gehweg und ist sehr kurvenreich.

Wem die Kurven nichts ausmachen, sind die vielen Motorroller-Fahrer. Die fahren in halsbrecherischem Tempo die Straße hinunter. Dabei schneiden sie an den unübersichtlichsten Stellen die Kurven, als hätten sie neun Leben. Oder einen Termin bei Gott.

Einer fährt sogar auf dem Hinterrad den Berg hoch. Ich glaube, er will der Tochter imponieren. Die ist maximal unimponiert.

Der Sohn findet die Rollerfahrer cool. Er würde auch gerne einen Moped-Führerschein machen. Hoffentlich vergisst er das, bis wir wieder in Berlin sind. Dann müssen wir es ihm nicht verbieten. Beziehungsweise – pädagogisch wertvoll – argumentativ davon überzeugen, dass das keine gute Idee ist.

Der andere Strand ist etwas kleiner und dadurch etwas voller. Und die Besucher*innen etwas jünger. Eher so Spät-Millennials und Früh-Generation-Zer. Da würde ich nur unangenehm auffallen. Außerdem ist der Weg viel zu lang. Wir werden also bei unserem Stamm-Strand bleiben. (Der Stamm-Strand wischt sich unauffällig eine Träne aus dem Augenwinkel.)

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Neues Kniffelspiel, neuer Kniffelsieg. Für mich zumindest. Und nicht nur ein Sieg, sondern ein Triumph. Ich werfe drei Kniffel und komme auf 479 Punkte. Weil ich einen 1er-Kniffel beim Dreier- und einen 2er-Kinffel beim Vierer-Pasch eintragen muss, sind es nicht noch mehr Punkte. Das Bedauern der anderen hält sich in Grenzen.

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Vollmond über Cassis

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Cassis 2022 – Tag 04 (12.07.): In der Ferne zirpen die Zikaden. Und in der Nähe. Und einfach überall. (Teil 2)

Teil 1


Meine Frau und ich gehen runter in den Ort zu unserer Stammbäckerei. Wir waren erst zweimal dort, aber werden in diesem Urlaub sicherlich zu keinem anderen Bäcker mehr gehen. In unserer Stammbäckerei – ja, ich bleibe bei der Formulierung – kennen wir die Regeln der sozialen Interaktion, die Gepflogenheiten, die Abläufe. Okay, bei anderen Bäckern ist das wahrscheinlich identisch: Du gehst rein, stellst dich an, wenn du an der Reihe bist, sagst du, was du haben möchtest, bezahlst und verlässt den Laden.

Trotzdem gibt es Sicherheit – insbesondere im Urlaub in einem Land, in dem du die Sprache nicht beherrschst –, wenn es Routinen gibt, du eine gewohnte Umgebung hast und vertraute Gesichter siehst. Gut, die ältere Verkäuferin schaut immer etwas grimmig. Trotzdem ist sie ein vertrautes Gesicht. Bei ihr weiß ich, dass sie mir nichts tut. Keine Ahnung, wie das in anderen Bäckereien ist. Wenn du da nicht schnell genug bestellst und bezahlst, wirst du vielleicht vom Verkaufspersonal attackiert . Oder in der „Boulangerie Lion“ sogar von dem backenden Löwen.

Heute früh müssen wir allerdings feststellen, dass in unserer Stammbäckerei die Croissants, die wir so liebgewonnen haben, aus sind. Ich verstehe nicht, was die jüngere Verkäuferin zu der Kundin sagt, die an der Reihe ist. Situativ erschließe ich mir aber, dass es wohl gleich Nachschub gibt. Meine Frau und ich verlassen die Bäckerei, um in ein paar Minuten noch einmal unser Croissant-Glück zu versuchen.

Wir schlendern zum Hafen. Dort reihen sich Lokale, Restaurants und Cafés aneinander. Mit Blick aufs Wasser und auf Ausflugs-, Segel- und kleinere Fischerboote kannst du hier zu recht strammen Preisen zu Mittag und zu noch strammeren Preisen zu Abend essen.

Apropos stramm: Obwohl es erst kurz nach 11 ist, führen sich nicht wenige Urlaubende schon ein Fläschchen Weißwein zu Gemüte. In der prallen Sonne bei 30 Grad. Einerseits sieht das durchaus reizvoll aus. Der Wein ist eisgekühlt und das Kondenswasser läuft die Gläser hinunter. Am liebsten würde ich die ablecken. Andererseits reicht bei dieser Hitze – und meinem leeren Magen – ein Schluck Alkohol und ich hätte einen im T. Aber das ist wahrscheinlich gar nicht so schlecht, wenn du nach dem Essen die Rechnung bekommst.

Ich bin ohnehin kein riesengroßer Fan der französischen Küche. (Zu viele Innereien und zu viele Tiere, die ich nicht essen möchte.) Das wirft natürlich berechtigterweise die Frage auf, warum ich überhaupt in Frankreich Urlaub mache, aber das ist ein anderes Thema. (Vor allem, weil jedes Jahr nach Italien fahren langweilig ist und Indien zu weit weg ist.) Auf jeden Fall bin ich nicht in Versuchung gebracht, unsere Urlaubskasse mit 20 Euro für eine Portion Moules Frites zu belasten. Und mit sieben Euro oder mehr für ein Glas Weißwein.

Da reizt mich eher das Frühstück in einem der kleinen Hafenbistros. Das wird auf einer dreistöckigen Etagere mit Käse- und Wurstaufschnitt, Marmelade, Nuss-Nougat-Creme, Crossaints und Baguettes sowie Obstsalat (französische Variante) oder gebratenem Schinken und Rührei (amerikanische Version) serviert. Dazu gibt es Orangensaft und ein Kaffeegetränk.

Dreizehn Euro kostet das Ganze. Für ein Frühstück nicht gerade geschenkt. Aber der sich nie irrende Volksmund weiß ja, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages ist und du morgens wie ein Kaiser speisen sollst. Für ein kaiserliches Mahl sind dreizehn Euro ziemlich wenig.

Die Urlaubskasse ist von dieser Logik nicht uneingeschränkt überzeugt. Nicht zu Unrecht. Der Rest der Familie möchte mir sicherlich nicht beim Frühstücken zuschauen, sondern selbst etwas essen. Dann liegst du schon bei über 50 Euro.

Meine Frau und ich gehen zurück zu unserem Stammbäcker. Wir holen zwei Baguettes und drei Croissants. Dafür müssen wir nur 5,30 Euro zahlen. 1,10 Euro für ein Croissant ist auch nicht übermäßig günstig. Aber wenn der Kaiser zum Frühstück Croissants essen will, bekommt er Croissants. Koste es, was es wolle.

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Ich war in meinem Leben an mehr als 30 Stränden, verteilt auf zehn Länder und drei Kontinente. Anthropologisch und soziologisch gesehen, ist es nicht wahnsinnig originell, wenn ich schreibe, dass sich je nach Land und Kulturkreis die Sitten, Gebräuche, Verhaltensweisen und Umgangsformen an Stränden stark voneinander unterscheiden.

Das trifft aber nicht auf Familien zu. Länder-, kultur und religionsübergreifend verhalten sich Eltern und Kinder an allen Stränden vollkommen identisch. Immer. Ohne Ausnahme. Da gibt es keinerlei Varianz und Abweichungen. Das gilt auch für unseren Stamm-Strand in Cassis. Hier ein paar Beispiele:

  • Eltern gehen überall ausschließlich sehr, sehr langsam und sehr, sehr bedächtig ins Wasser. Schritt für Schritt und zusammenzuckend sobald eine winzige Welle an ihnen hochschwappt. Dabei benetzen sie sich vorsichtig die Unter- und dann die Oberarme. Damit wollen sie vermeiden, durch zu schnellen Kontakt zum kalten Wasser einen Herzstillstand zu erleiden. Kinder müssen dagegen immer und ausnahmslos ins Meer rennen und maximal planschen und Wasser verspritzen. Das ist durch einen genetischen Code festgelegt. An allen Stränden rund um den Globus ermahnen Eltern ihre Kinder dann in scharfem Ton, sie sollen unverzüglich die Spritzerei unterlassen. Sie drohen mit Enterbung oder gar Eisverbot, was für die Kinder wesentlich schlimmer ist.
    (Bei generationsübergreifenden Konflikten in der Familie rund um den angemessenen Einstieg ins Meer stößt das Konzept „Erziehen ohne Strafen”  an seine Grenzen.)
  • Kinder wollen nie das Wasser verlassen. Nirgendwo, an keinem Strand weltweit. Ihre Lippen sind blau, die Finger- und Zehennägel weiß und ihr Zähneklappern hat mehr beats per minute als ein Scooter-Song. Trotzdem sind sie unter keinen Umständen bereit, aus dem Wasser zu gehen und sich kurz auf dem Badetuch aufzuwärmen. Eltern auf der ganzen Welt stehen dann vor ihren Kindern fordern auf, bitten, flehen, bestechen mit Süßigkeiten, schimpfen und zetern. Irgendwann wird es ihnen zu bunt, sie klemmen sich ihr schreiendes Kind unter den Arm und schleppen es zum Liegeplatz.
    (Eine Verhalten, das im ersten Moment grob und gewaltvoll wirkt, aber trotzdem mit bedürfnisorientierter Erziehung vereinbar ist: Das Bedürfnis der Eltern, ihr Kind soll nicht im Wasser erfrieren, hat in der Situation Vorrang gegenüber dem Bedürfnis des Kindes, nie wieder das Meer verlassen zu wollen.) (Für mehr unfundierte Erziehungsratschläge kaufen sie bitte meine Bücher.)
  • Alle Kinder auf allen Kontinenten hassen es, eingecremt zu werden. Sobald Eltern auch nur andeuten, eine Flasche Sonnencreme aus der Badetasche zu holen, beginnt unverzüglich das kindliche Gemaule und Protestieren. Wagen es Eltern tatsächlich, mit dem Eincremen zu beginnen, verwandeln sich Kinder in tollwütige Kraken, die mit allen zur Verfügung stehenden Extremitäten versuchen, sich nicht festhalten zu lassen und den Kontakt zur Sonnencreme zu vermeiden. Dabei gilt die Regel: Je kleiner das Kind, desto tollwütiger und krakiger.
    (Ich habe Babys gesehen, die ihre hünenhaften Väter zur Strecke gebracht haben, als diese versuchten, eine stecknadelkopfgroße Menge Sonnencreme zu applizieren.)
  • Kinder sind an keinem Strand der Welt in der Lage, Lebensmittel festzuhalten. Wird ihnen etwas Ess- oder Trinkbares gereicht, liegt es sofort auf dem Boden. Ein Eis, zack, unten. Ein Obstschnitzen, flutsch, unten. Ein Trinkbäckchen, platsch, unten. Ein Sandwich, plumms, unten. Nirgendwo reagieren Kinder dann mit Verständnis, wenn ihre Eltern ihnen untersagen, den angelutschten Keks, der über den halben Strand gekullert ist, noch zu essen.

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Der Kniffel-Abend bringt eine Veränderung auf dem Leader-Board. Mit einem Kniffel und 301 Punkten gewinne ich das dritte Mal hintereinander und übernehme die Gesamtführung. Außer mir scheint das niemanden so richtig zu freuen, ja, nicht einmal zu interessieren. Gewiss möchte ich hier nicht den verkrusteten patriarchalen Familienstrukturen der 50er/60er das Wort reden, aber ein wenig mehr Respekt gegenüber dem Herrn Vater wäre schon schön.

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Mond über Cassis

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Cassis 2022 – Tag 04 (12.07.): In der Ferne zirpen die Zikaden. Und in der Nähe. Und einfach überall.

Der alljährliche Urlaubsblog. Nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Falls Sie, aus welchen Gründen auch immer, alle Beiträge des Cassis-Blogs lesen möchten, werden Sie hier fündig.


Ratsch! Ratsch! Ratsch!

Kurz vor sieben. Die Zikaden sind aufgewacht. Und ich damit auch.

Im Vergleich zu Städten werden ländliche Gegenden gemeinhin als Oasen der Ruhe und der Stille gerühmt. In erster Linie von Menschen, die noch nie in ländlichen Gegenden waren.

Ratsch! Ratsch! Ratsch!

In und um Cassis ist es mit der ländlichen Ruhe und Stille nicht weit her. Dafür sorgen die Zikaden. Ihr Zirpen ist ein beständiger Klangteppich, ein allgegenwärtiger Hintergrund-Soundtrack. Morgens, wenn die Sonne aufgeht, fangen sie mit der Zirperei an, und erst abends, wenn die Sonne verschwindet, hören sie auf.

Ratsch! Ratsch! Ratsch!

Das Wort „Zirpen“ vermittelt nur unzureichend, was für Geräusche die Zikaden den ganzen Tag produzieren. Es ist eine Mischung aus Kreischen, Brüllen und Zetern, während jemand eifrig ein Stück Metall über eine Küchenreibe zieht. Selten in piano, sondern fast ausschließlich fortissimo.

Ratsch! Ratsch! Ratsch!

Aus mir unerklärlichen Gründen heißt die Zikadenart, die hier in der Gegend lebt, Singzikaden. Eine veritable Wort-Ton-Schere. Wer auch immer die Bezeichnung Singzikaden eingeführt hat, hat vermutlich noch nie gehört, wie jemand singt. Die Geräusche, die Zikaden fabrizieren, haben mit Gesang so viel zu tun wie ein Klo bei einer Brechdurchfall-Erkrankung mit expressionistischer Malerei. (Vergleiche wie dieser sind der Grund, warum Sie für die Beiträge hier nichts bezahlen müssen.)

Dauerbrüllende Schreizikade wäre ein viel zutreffenderer Name. Aber mich fragt ja niemand.

Ratsch! Ratsch! Ratsch!

Für den Zikaden-Lärm sind – wie sollte es anders sein – die Männchen zuständig. In der Antike schrieb der griechische Dichter Xenarchos: „Glücklich leben die Zikaden, denn sie haben stumme Weiber.“ Wäre Xenarchos eine Frau gewesen, wäre ihr Urteil sicherlich anders ausgefallen: „Unglücklich leben die Zikadinnen, denn ihre Männer halten einfach nie ihre verdammten Fressen.“

Ratsch! Ratsch! Ratsch!

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